Alte Musik Der Zauber mittelalterlicher Musik

Die im Beitrag vorgestellten Werke. © chronico

Ein Special zu Vertonungen historischer Musik: Das Lochamer Liederbuch aus dem 15. Jahrhundert erwacht zu neuem Leben. Vox Resonat treten als „Spielleute Gottes“ auf. Und es gibt eine Musikreise ums Mittelmeer.

Lochamer Liederbuch

Spätestens mit der um 1300 entstandenen Manessischen Liederhandschrift (Codex Manesse) war die Zeit der sich vor allem auf mündliche Überlieferung stützende Tradierung von Literatur und Liedgut vorbei. Einige deutschsprachige Liederhandschriften sowie Liederbücher aus dem Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit sind heute bekannt. Zu den wichtigsten Sammlungen zählt schon aufgrund seines Umfangs das Lochamer Liederbuch aus der Zeit um 1460.

2007/8 legte der Musiker und Musikwissenschaftler Marc Lewon das Liederbuch gleich in zweifacher Ausfertigung vor: 26 der insgesamt rund 50 Stücke des Lochamer Liederbuchs spielte Lewon mit seinem Ensemble Dulce Melos und dem Bariton Martin Hummel ein (Naxos). Im Verlag der Spielleute erschien zudem eine zweiteilige Printedition über das Liederbuch.

Die Sache ist die: Gut erhaltene Liederbücher, die auch noch mit ausführlichen Melodien aufwarten (wenn auch nicht mit Takten oder exakten Tonhöhen, das war im Mittelalter nicht üblich), sind ein Leckerbissen zunächst für Forscher. Es gibt sie denn auch, die wissenschaftlichen Abhandlungen zum Lochamer Liederbuch. Der naturgemäß praxisorientierte moderne Musiker aber braucht andere Türen, um sich ein solches historisches Material zu erschließen. Unabhängig davon, ob es ihm um freie Interpretationen oder möglichst authentische Aufführungen geht. Eine solche Tür ist die zweibändige Edition von Marc Lewon. Insgesamt 20 ein- und mehrstimmige Lieder hat Lewon für diese Ausgabe übertragen und aufbereitet. Die musikalische Aufführbarkeit der Stücke ist das Ziel der Übung. Akribisch überträgt Lewon die Noten und entschied sich für einen moderne Takt. Dass allein damit auch seine Arbeit schon eine gewisse Interpretation ist, macht der Autor eingangs gleich deutlich. Textmelodien und Instrumentalanteile bereitet Lewon gewissenhaft auf und geizt auch nicht mit ausführlichen Kommentaren und Hinweisen zur Spielpraxis.

Für die CD selbst ist freilich kein Notenverständnis oder gar musiktheoretisches Basiswissen nötig. Sie bietet ungebremstes Hörvergnügen. Es sind durch und durch weltliche Lieder des deutschen Spätmittelalters, die ein gewisser Frater Judocus von Windsheim aus dem Nürnberger Raum aufschrieb. Die meisten Stücke sind anonym überliefert, nur drei lassen sich zuweisen. „Wach auff, mein hort“ des berühmten Oswald von Wolkenstein zählt dazu, gleichsam eine Art Gassenhauer der damaligen Zeit. Das Lied markiert den Beginn sowohl im Praxishandbuch als auch auf der CD. Überhaupt finden sich die Lieder der CD allesamt auch im Handbuch wieder. Lewons Ensemble bietet also gleich die Praxisbeispiele mit – eine klasse Kombination! Das Album gibt sich recht melancholisch, Martin Hummel zelebriert den Gesang mit Perfektion. Die Musiker von Dulce Melos untermalen die Lieder auf das Feinste, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Neben Lewon (Laute) sind dabei: Yukiko Yaita (Flöte), Margit Übellacker (Hackbrett), Uri Smilansky und Elizabeth Rumsey (beide Fidel). Das Ensemble besteht seit 2003, seine Mitglieder lernten sich bei der renommierten Schola Cantorum Basiliensis kennen.

Dulce Melos; Das Lochamer Liederbuch; Naxos 8.557803 sowie: Marc Lewon „Das Lochamer Liederbuch in neuer Übertragung und mit ausführlichem Kommentar“; Teil 1und 2; Verlag der Spielleute

Joculatores Dei und das alte Italien

Florenz, Montecassino, Venedig oder Pavia – das sind die Orte, an denen sich die Musiker des Albums „Joculatores Dei – die Spielleute Gottes“ ihre Quellen besorgten. Der Name ist ein Zitat aus einem Spruch, den der Heilige Franziskus von Assisi getan haben soll. Den Lobpreis des Herrn singen, mit einer Leidenschaft, wie sie eben Spielleuten innewohnt – so stellte sich der Heilige die Mission seiner Gefolgschaft wohl vor. Das weltliche Milieu, weniger das Klosterleben, hatte Franziskus dabei im Blick. Auf die Musik bezogen, kam daher weniger die meditative Gregorianik in Betracht.

Auf der Apenninenhalbinsel blühte im hohen und späten Mittelalter die Frömmigkeitsdichtung, die Lauden. „Die Lauda im mittelalterlichen Italien“ lautet denn auch der Untertitel des Albums, das 2007 im Label Raumklang erschien. Das Ensemble Vox Resonat, unter der Leitung des Tenors Eric Mentzel, trug für die Scheibe Lauden aus gut 250 Jahren zusammen. Die Palette reicht von frühen einstimmigen Liedern bis hin zu polyphonen Werken des beginnenden 16. Jahrhunderts.

Geistliche Lieder, oft von Laien, meist für Laien gesungen – und das mit volkssprachlichen Texten. Das ist das musikalische Repertoire, das im Umfeld von Franziskanern und Dominikanern entstand. Schlichte Gesänge waren die Lauden in ihrer Anfangszeit. Je mehr die Renaissance Italien erfasste, bekamen auch die Lauden ihre Mehrstimmigkeit. Rund 64 Minuten lang begeistern die modernen Interpreten von Vox Resonat mit ihren perfekt aufeinander passenden Stimmen. Eric Mentzel und Stephen Grant gründeten das Ensemble 1996, das seither große Solisten anzieht. Bis zu vier männliche Sänger und ein sparsam bestücktes Begleitensemble mit Laute, zwei Fideln und einer Viola da gamba treten auf. Die Instrumente bleiben vornehm im Hintergrund. Wohl wie im Originalen auch liegt der Fokus auf den Stimmen selbst. Und hier gibt es keine vorpreschende Primadonna, keine Hänger, keine unnötigen Pausen. Einsatz, Stimmkraft und –farbe sitzen perfekt. Die Perfektion lässt wenig Wünsche offen. Außer diesem einen vielleicht: Wie würden diese Lieder wohl in einer mittelalterlichen Taverne klingen? Immerhin sah mancher Kirchenfürst misstrauisch auf die Laudensänger, trugen sie ihre Lieder doch überall vor, wo das Volk sich tummelte. Diese rustikale Anmutung bleibt Vox Resonat dem Hörer schuldig, so professionell gehen sie die Sache an.

Das Album macht in seiner sparsamen Pracht einfach Freude. Wer mag, kann die Strophen anhand des üppigen Booklets verfolgen: Die Lieder sind im italienischen Original, aber auch in englischer, deutscher und französischer Übersetzung abgedruckt. Künstlerporträts und ein ausführlicher Hintergrundtext liefern zusätzlichen Stoff. Letzterer ist für musikalische Laien aber schwere Kost, denn er wartet mit fettem Fachchinesisch auf.

Vox Resonat; „Joculatores Dei“; Raumklang; MA 20012

„Zeit der Templer“ von Naxos

Die Welt des Mittelalters auf drei CDs zu pressen, ist keine leichte Aufgabe. Das Musiklabel Naxos hat es versucht. Um die Auswahl inhaltlich zu klammern, verpasste Naxos der im April 2008 erschienenen 3-CD-Box den Titel „Zeit der Templer“. Das Booklet verspricht eine Reise „auf den Spuren der Tempelritter“. Der Grundgedanke: Templer entstammten den Adelshäusern, kamen also mit der dort rezipierten Musik von Alltag bis Kirche in Berührung. Und die Ritter waren vor allem im Heiligen Land zur Zeit der Kreuzzüge im Einsatz. Aus Sicht des Labels also ein idealer Anlass, um auch zeitgenössische orientalische Musik in die Sammlung aufzunehmen.

Das Ziel der Unternehmung: „Wir wollten Backlisttitel unter ein Thema bündeln und haben uns für die Templer entschieden“, sagt Naxos-Sprecherin Veronika Lindenmayr auf Anfrage von chronico. An der Idee selbst ist im Grunde wenig auszusetzen. Zweitverwertung ist sowieso Trend. Allerdings haben die ausgewählten Stücke mit den Tempelrittern originär überhaupt nichts zu tun, das Thema wirkt eher verkrampft. Entsprechend willkürlich mutet auch die Auswahl der Stücke an – völlig unabhängig von deren meist sehr guten Qualität. Nur, ob die Musiker und Interpreten, die sich in der Box wiederfinden, mit ihren Originalalben nun ausgerechnet kämpfende oder betende Tempelritter im Visier hatten, darf bezweifelt werden.

CD 1 beginnt mit einem trommelwirbelnden Instrumentalintro vom „Palästinalied“ des Walther von der Vogelweide. Estampie hat das Instrumental sehr schön arrangiert, auf „Zeit der Templer“ bleibt das Stück leider stumm – sprich: ohne Text. Das geht besser! Herausgeber Lothar Jahn (minnesang.com) hat das jüngst auf seinem im Verlag der Spielleute erschienenen Vogelweide-Sampler bestens gezeigt. Zwar mit viel moderner Phantasie, aber mit spannenden Arrangements und vor allem den Textstrophen präsentieren dort mehrere Musiker das berühmte Lied. Verhalten, aber stimmungsvoll sind zwei weitere Estampie-Vertonungen, darunter eines, das dem englischen König Richard Löwenherz zugeschrieben wird.

Regelrecht lebendig kommt danach ein Stück des Ensembles Unicorn daher, das sich der Musiksammlung von König Alfons dem Weisen, des Herrn von Kastilien und Leon im 13. Jahrhundert, angenommen hat. Wunderschöne Aufnahmen steuerte Unicorn auch aus seiner Zusammenarbeit mit Oni Wytars bei. Beide Ensembles genießen einen hervorragenden Ruf in der Szene rund um Alte Musik. Ihre Harmonie kommt nicht von ungefähr – die Musiker Marco Ambrosini, Riccardo Delfino und Michael Posch sind im Kader beider Gruppen vertreten. In „Zeit der Templer“ sind die Formationen unter anderem mit Vertonungen aus der Carmina Burana zu hören.

Nicht weniger schön, aber irgendwie unpassend sind auf dieser CD 1 Lieder aus dem kirchlichen Umfeld, zumal „Die Musik der Kirche“ der Titel der zweiten Scheibe ist. CD 2 also ist dem weltlichen Mittelalter abgewandt, und das behält die Scheibe auch konsequent bei. Überhaupt wirkt sie im Gegensatz zu den anderen beiden Teilen wie aus einem Guss. Kein Wunder, denn alle Stücke sind von der Nova Schola Gregoriana unter ihrem Musikchef Alberto Turco arrangiert. Ihr Part erzeugt eine meditative Atmosphäre, die sauber vorgetragenen Stimmen verlangen nach einem geduldigen Hörer. Wer sich auf die gregorianischen Gesänge einlassen mag, kommt eindeutig auf seine Kosten. Nun ist es aber so, dass auch im Mittelalter Kirchenmusik nicht deckungsgleich mit Gregorianik war. Was es anderes gibt, davon bekommt der Hörer auf der ersten Scheibe eine Kostprobe, unter anderem mit Werken von Hildegard von Bingen. Diese auf CD 2 zu pressen, hätte thematisch zwar bestens gepasst, aber wiederum die klangliche Einheit der gregorianischen Stücke zerrissen. Auch das ist eine konzeptionelle Schwäche der Box.

Sie ist fulminant und macht hemmungslos Spaß – CD Nummer 3 der „Templer“-Box. Von den Ordensrittern gibt es natürlich auch hier keine Spur. Aber wer würde auf dem Sampler auch ernsthaft danach suchen wollen. Auch hier brennen Oni Wytars und das Ensemble Unicorn (mal gemeinsam, mal getrennt) ein fantastisches Feuerwerk lebhafter Arrangements ab. Der Starter „Bache, bene venies“ ist ein bestens aufgelegtes Trinklied. CD 3 lebt nicht nur von musikalischer Frische, sondern vor allem von spannenden Brüchen. Und hier kommt die Erfahrung der ausgesuchten Ensembles voll zum Tragen. So widmen sich Oni Wytars beispielsweise nicht nur Musik aus dem Umfeld Kaiser Friedrichs II., sondern nehmen die Musikkultur rund um das Mittelmeer unter die Lupe. Islamische Mystik, mittelalterliche Stücke vom Balkan und christlich-arabische Überlieferungen prägen die Scheibe. Sie ist in der 3-CD-Box sicherlich jene, die mit dem größten Gewinn zu hören ist. Für thematische Einsteiger ist die Box trotz ihrer konzeptionellen Unzulänglichkeiten eine gute Empfehlung. Sie versammelt ernsthafte Vertreter und Arrangeure der mittelalterlichen Musik – weit jenseits vom Mittelaltermarktspektakel. Mir persönlich hat die Sammlung eher Lust auf die jeweiligen Originalalben gemacht.

„Die Zeit der Templer“; Naxos 8.503192D

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