Wolfenbüttel Zeitreise im Schlosshof

Tohopesate-Mitbegründer Rainer Kasties als spätmittelalterlicher Stadtkämmerer. © Marcel Schwarzenberger

Kampftraining, Sangeskunst, Handwerkstreiben und „fruntlike“ Leute – im Wolfenbütteler Schloss trafen sich im Juli Akteure, die Living History mit großem Engagement betreiben. Auf Stippvisite ins hohe und späte Mittelalter.

Versunkene Gegenwart

Die Weg führt mit jedem Schritt zurück in der Zeit. Draußen: Menschen und Gewimmel, typisch 21. Jahrhundert. Dann stehst du vor der altehrwürdigen Front des Wolfenbütteler Schlosses in Niedersachsen. Das barocke Tor, frühes 18. Jahrhundert, durchschreitest du, indem du die üppig mit Figuren bestückte Brücke über einen Wassergraben entlanggehst. Hinein in den kantigen Innenhof, in dem hohe Bäume rauschen und die Wände rot bemalt sind; und wo zwischen den echten Fenstern auch ein paar falsche in den Hof starren. Und dort, endlich, sind dann die Arkaden, eingebaut im 17. Jahrhundert nach italienischem Vorbild. Sie sind aber nicht das Ziel der Zeitreise, nur Kulisse. Eine malerische, ja, aber eine vergleichsweise junge Kulisse.

Die Bühne ist bereitet – nicht für ein knallbuntes Spektakel, sondern für sorgfältig ausgedachte Choreografien oder die nicht minder detailversessene Zurschaustellung historischer Kleidung, alten Handwerks und althergebrachter Kultur. Vom 11. bis ins 15. Jahrhundert hinein reicht die Palette jener Darstellungen, die Einzelakteure und Gruppen mitgebracht haben, an diesem vorletzten Sonnabend im Juli. Sie sind es, die den geräumigen Platz unter den Arkaden beleben, die Schutz vor brennender Sonne und Regentropfen bieten. Beides ist an diesem Tage nötig.

Mitten im Hof: Zelte, Fahnen, weitere Stände, noch mehr Menschen in historischen Kleidern. Die „Kostüme“ aus dem 21. Jahrhundert ignorierst du am besten, die Leute darin wollen auch nur gucken. Und reden, fragen. Das vor allem. Ein Schwert halten, dem Schmied über die Schulter schauen, verstehen lernen, was das Outfit der Leute im Laufe der Epochen unterschieden haben mochte – oder sich ähnlich blieb. Der Hof ist voll. Die Besucher strömen herbei, weil das Wolfenbütteler Stadtmarketing Lust auf eine mittelalterliche Veranstaltung bekam, in der es die Akteure möglichst genau nehmen mit der Herstellung ihrer Ausrüstung. Und die Akteure kamen, weil Claus Meiritz (Werkstätten für lebendige Geschichte) und der hannoversche Historiker Rainer Kasties (Gheschen anno 1480) das richtige Händchen bewiesen. Dass der Zutritt fürs Publikum ohne Geld möglich ist – ein Sahnehäubchen obendrauf. Nötig wäre es vermutlich nicht gewesen.

Bei den Franko-Flamen

Sie haben lange geübt, manche jahrelang, die kämpfenden Männer im franko-flämischen Kontingent, kurz: FFC. Ein gutes Dutzend aus der Gemeinschaft fand den Weg nach Wolfenbüttel. Im Schlosshof gehört die Bühne ihnen. Voll ausgerüstet mit Kettenhemden, Helmen und den umgekehrt tropfenförmigen Schilden brauchen sie reichlich Platz. Lanzen, Schwerter, Bogen – all das zeigen sie in Aktion. Mit ruhigen Bewegungen und wenig raumgreifend natürlich. Die Bühne ist eng, die Bretter rutschig, und gleich am Rand drängen sich vor allem Kinder, bereit zum Staunen.

Es ist kein „Kriegsgeschehen“, dass die Kämpen zeigen, sondern eine Spielart ihres Trainings. Aber auch das sei nicht einfach zum Nachmachen gedacht, warnt Claus Meiritz. Als Moderator erläutert er die Bewaffnung von Elitekämpfern, wie sie im Jahr 1066 mit dem normannischen Herzog Wilhelm nach England hätten gehen können. Damals entschied die berühmte Schlacht von Hastings über den Fall des angelsächsischen Königtums. Ein Ereignis, das heute regelmäßig auf dem historischen Schlachtfeld nachgestellt wird, als Reenactment. Genau dafür haben sich vor gut vier Jahren die Männer und Frauen des FFC zusammengefunden. Genauer: für den 940. Jahrestag der Schlacht 2006. Danach lief die Truppe nicht einfach auseinander. Die meisten blieben dem FFC irgendwie treu, rund 150 Aktive würde die Gemeinschaft heute noch zusammenbringen. Sie treten keineswegs nur martialisch auf. Nach der Vorführung, den Helm abgesetzt und die Waffen ordentlich abgelegt, kommen verschwitzte, aber freundliche Gesichter darunter zum Vorschein. Und du kannst mit ihnen gut an einer der Buden stehen, die Gebratenes anbieten, oder kühlen Met. Noch einmal Hastings? „Ganz bestimmt, wir peilen 2012 an“, sagt der Kölner FFC-Chef Gawan Dringenberg. Bis dahin gibt es immer wieder Treffen, in Deutschland, aber auch in Frankreich, wo das FFC mit den beiden Gruppen „Hag’Dik“ und „Dex Aié“ feste Partner gefunden hat, Normannendarsteller alle beide.

Auch der zivile Alltag des 11. Jahrhunderts hat seinen festen Platz im Konzept des Kontingents. Aber das FFC ist bei seinen Auftritten hierarchisch strukturiert, was in der Living-History-Szene manchmal Staunen, zuweilen Verwunderung auslöst. Doch die kleine Vorführung eben zeigte, worin die eigentliche Bedeutung dieses Systems liegt: Auf Kommando gehen die Kombattanten ihre Aktionen an. Nicht nur der Kampf selbst, auch das Führen von Waffen – selbst wenn sie mit stumpfen Spitzen bestückt sind – in Marsch- oder Kampfreihen will geübt sein. Regelrecht automatisch wiesen die Lanzen auf Bereiche unterhalb des Kopfes, als Moderator Meiritz die kleine Reihe auf der Bühne abschritt. „Es geht um das Trainieren von Verhaltensweisen, das gibt ein Sicherheitsgefühl“, erklärt Sascha Starke, der Nordhesse, beim FFC besser mit seinem nom de guerre Linnhard bekannt.

Von Thüringern und Staufern

Im FFC-Trupp mit dabei ist auch Maik Elliger, Vorsitzender des Thüringer Ritterbunds. Wer mit ihm ins Gespräch kommt, erfährt, wie so manche Darstellergruppe gleich in mehreren Epochen unterwegs ist. Die Thüringer sind im Grunde eine im staufischen Hochmittelalter angesiedelte Gruppe. „Das machen wir auch weiter“, sagt Elliger. In Hastings waren sie dabei, manche haben eine ottonische Ausrüstung oder schufen sich eine Darstellung, die zum Thüringer Königreich passt, 5. Jahrhundert. Und ihr jüngstes Projekt sind Hermunduren, 1. Jahrhundert. Bei der Museumsnacht im August dieses Jahres in der Wartburg bei Eisenach sind sie wiederum im hochmittelalterlichen Outfit dabei. Landgrafenzimmer, Skriptorium oder Frauenkemenaten – in den Räumen der Burg gestalten sie die passenden Szenen.

Das Jahr 1193 ist das Jahr der IG Wolf, einer der wohl dienstältesten Mittelaltergruppen, die Deutschland zu bieten hat. Seit 21 Jahren ist der Verein der Ära des dritten Kreuzzugs verbunden. In ihrer Darstellung gewissermaßen staufisch durch und durch, bekam die IG Wolf vor zwei Jahren den Kulturpreis „Premio Federichino“ verliehen, den die Staufergesellschaften Göppingen, Jesi und Palermo in Anlehnung an Kaiser Friedrich II. vergeben.

Der Vereinsvorsitzende Andreas Kuhnert hat heute viele Aufgaben. Mal ist er in der kompletten Rüstung eines hochmittelalterlichen Ritters von Menschen umringt, mal tritt er als launiger Sänger auf, gemeinsam mit Frauen der IG Wolf. Indra Ottich etwa, die mit einer Flöte den Ton angibt für zeitgenössische weltliche Lieder. Und du lässt dich einen Moment fallen auf eine Bank nebenan und lauschst einfach. Vor dir ein Tisch des Living-History-Vereins mit einer kleinen Realienschau. Ein Aquamanile aus Ton ist darunter, ein Wasserspender also, wie er natürlich auch im staufischen Kaiserreich zur Tafel gehörte.

Während du noch überlegst, welches Tier die Figur darstellt, fällt der Blick auf das weit geöffnete Zelt nebenan. Auch dieses gehört zur IG Wolf. Im edlen Kleid einer wohlhabenden Dame sitzt dort Sonja Natus, ein Bündel Seide auf dem Schoß. Ihr zu Füßen liegen Kokons von Seidenraupen, klein und zerknautscht die einen, groß und voluminös die anderen – das Ergebnis unterschiedlicher Zuchtvarianten. „Immer herein“, sagt die Dame und du trittst näher. Bestaunst die kleine Spindel für die Seidenfäden und die geschickten Handbewegungen. Prächtig ist die Ausstattung des Zeltes, und zum Betrachten da. Zum Fragen auch. Etwa nach dem Altartuch, das meterhoch an der Rückwand hängt. Farbenfroh und mit einem Bild der heiligen Nacht, das einem mittelalterlichen Codex entstammen könnte. Was stimmt, wie du sogleich erfährst. All die Farben, Linien und Figuren darauf, die sind doch nicht etwa … „Alles von Hand gestickt“, sagt Natus. In Schlingtechnik gefertigt, was ein Mordsaufwand gewesen sein muss. Immerhin haben zwei Frauen – freilich mit Unterbrechungen – etliche Jahre daran gearbeitet. Draußen singen die anderen noch, immer mehr Zuhörer versammeln sich um sie. Um hochmittelalterliche Spiele und Musik gestaltet die IG Wolf auch ganze Tagesprogramme, so auch im September im Berliner Museumsdorf Düppel.

Kämmerer, 15. Jahrhundert

Nur einige Schritte über den Hof, hin zu den Arkaden, und du bist in anderen Jahrhunderten. Bei Fischern aus dem 13. Jahrhundert. Oder einem Löffelmacher mit Sonnenhut und der Kleidung des 14. Jahrhunderts. Und noch mehr Stände, teils kaufmännisch, teils wiederum handwerklich geprägt.

Ein Großteil der Arkaden ist gewissermaßen das Reich der „fruntlike tohopesate“. Die Worte wollen deutlich und langsam ausgesprochen sein. Richtig freundlich klingt es dann, und genau das ist mit „fruntlike“ auch gemeint. Mittelniederdeutsche Begriffe sind es, erfährst du dann von Rainer Kasties. Wörtlich ließe sich das mit „freundliches Bündnis“ übersetzen. Oder auch „gutes Einvernehmen“. Darauf bauten denn auch die norddeutschen Städtebünde oder „Tohopesaten“ im 13. und 14. Jahrhundert.

Über Jahre hinweg wühlte sich der Mediävist Kasties durch schriftliche Schätze von Institutionen wie dem Stadtarchiv Hannover. Durch das spätmittelalterliche Kämmereiregister der Stadt zum Beispiel. Bürokratie ist keine moderne Erfindung: Beinahe minutiös ließen die Stadtoberen die alltäglichen Verwaltungsakte aufzeichnen. „Das ist eine super Quelle“, findet Kasties. Quellen für heutige Wissenschaftler wie ihn. Quellen aber auch, die Living-History-Konzepte mit historischen Belegen untermauern können. Kostbares Material also.

Vor einigen Jahren bekam der Historiker Lust, eben selbst eine Darstellung zu versuchen. Mit Gleichgesinnten gründete er in Hannover die Gruppe „Gheschen na godes bord 1480“. Wieder so eine alte Formel, die mit „anno 1480“ übersetzt werden kann. Städtisches Leben ist der Schwerpunkt der Gruppe, die nun also auch in Wolfenbüttel dabei ist. Kasties selbst in der Kleidung eines Kämmerers, samt Schreibpult, Feder und einem selbstgemachten Beutelbuch. Würdig sieht er aus mit dem dunklen Chaperon, der typischen Kopfbedeckung. Und berichtet dir von Aufgaben des Kämmerers und überhaupt das spätmittelalterliche Verwaltungswesen, Alltagsgeschäfte … Oder besser: Er berichtet längst nicht dir allein, andere stehen dabei und lauschen, schauen. Wie an den Nachbartischen auch, wo gehämmert, geschnitten und gebaut wird.

„fruntlike tohopesate“ – damals und heute

Es gab also reale Städtebünde oder eben „Tohopesaten“. Kasties entwickelte die Idee, diese Vorbilder in Darstellungskonzepte einfließen zu lassen. Im vorigen Jahr hob er mit weiteren Gründungsmitgliedern die „fruntlike tohopesate“ aus der Taufe. Also lockerer Verbund von Gruppen und Einzelakteuren, die meist aus dem norddeutschen Raum stammen und sich dem Spätmittelalter verschrieben haben. „Etwa 50 Akteure bekämen wir derzeit zusammen“, schätzt Kasties. Doch es sind jetzt nicht alle in Wolfenbüttel. Die Mitglieder ergänzen sich und wer weiß, was sich daraus noch entwickeln kann. Ja, auch Militärisches gehört bei einigen zur Ausstattung.

Doch vor allem das zivile Leben ist es, das die „Tohopesate“ dem Publikum näherbringen will. Dass das geklappt hat, empfindet Heiko Buchholz gegen Abend als durchaus wahrscheinlich. Der Mann kommt aus Schloss Ricklingen in Niedersachsen, in einer mittelalterlichen Urkunde auch „Slote Riklinge“ genannt. So heißt auch die kleine Gruppe, die er mit seiner Frau Tina und dem Sohn Lennart bildet. Auch sie gehören zum Tohopesate-Netzwerk.

Haken, Ösen, Nestelhülsen oder Nestelbänder – klassische Accessoires und Zubehör der damaligen Menschen eben – stellen sie her. Unermüdlich schaffen sie an ihrem Stand kleine Mitbringsel für die Kinder aus dem Publikum. Umlagert sind auch sie bis zum Schluss. Heiko Buchholz atmet durch und meint: „Das war ein richtig toller Tag.“ Die Menschen waren interessiert, erfährst du dann. Sie haben gefragt, geredet. Auch das Ambiente im Schloss – wiederum toll. Er käme gern wieder.

Du sperrst die Ohren auf in Richtung Tor. Hörst die Leute Fachsimpeln, das Gesehene im Gespräch verdauend. Siehst den Vater mit zwei Kindern neben sich, die sich noch mit großen Augen im Hof umschauen. Und Vater lächelt, sagt: „Na, da habt ihr ja schon eine richtige Geschichtsstunde gehabt, was?“ Das Tor, dann die Brücke – willkommen zurück im 21. Jahrhundert.

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2 Kommentare

  1. Mehr Fotos von dieser tollen Veranstaltung findet man auf unserer Website

    04. August 2008, 15:08 Uhr • Melden?
  2. Schöner Bericht, Marcel. Ist mal ein anderer Schreibstil. Gefällt mir gut. Unsere Bilder der VA sind auch endlich oben, bei Slote Riklinge

    23. August 2008, 00:08 Uhr • Melden?

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