Wikingertage Wo Sachsen auf Normannen stoßen

Sachsen schlugen ihre Äxte gegen die grell bemalten Schilde, Friesen schwangen drohend ihren Spieß, die Normannen blickten drohend über den Rand ihrer spitz zulaufenden Schilde. Plötzlich rasten sie mit infernalischem Gebrüll in einer Kette auf die Zuschauer los. Doch im Gegensatz zu ihren „Vorfahren“ stoppten sie wenige Zentimeter vor dem Zusammenprall, lächelten, wischten sich den Schweiß von der Stirn und begannen ganz friedlich mit den solcherart beeindruckten Besuchern zu reden – mit deutschen, niederländischen, schwedischen oder englischen Zungen. Am vergangenen Wochenende zeigten gut 100 Darsteller aus Europa ihre Version des Lebens vor 1000 Jahren im Ostseeraum. Das Freilichtmuseum Oerlinghausen war einmal mehr Begegnungsstätte der Kulturen, sowohl in geografischer als auch in zeitlicher Hinsicht.

Schmerzlich mussten allenfalls Gewandete, die nicht geladen waren, eine Abweisung am Tor oder eine Umkleideaktion hinnehmen. Die Interessengemeinschaft Lebendiges Frühmittelalter, deren Mitglieder aus vielen Städten kommen, ihren Schwerpunkt aber in Hannover hat, übernahm die Organisation der Wikingertage im Museum. „Inzwischen kommen wir seit 1995 regelmäßig hierher“, sagte Karl Volland, der in der Tracht eines einfachen Sachsen das Tor und die Besucher im Auge behielt. Das Publikum soll schließlich die Zeit um 1000 in möglichst exakter Darstellung gezeigt bekommen – das ist Anspruch der Darsteller und Marktleute, die nur auf Einladung der IG zum Museum kamen, und des Museums selbst. Dieses „puristische“ Vorgehen, wie Direktor Karl Banghard es formuliert, sorge sicher für lange Gesichter bei den Abgewiesenen. Aber er wisse auch keinen anderen Weg. „Wir wollen ja etwas Bestimmtes vermitteln.“

So konnte das Publikum, das reichlich durch das Gelände streifte, sicher sein, dass es in der richtigen Zeit gelandet war, egal, wer ihm über den Weg lief. Und für reichlich Abwechslung sorgte die Vielzahl der Trachten und Ausrüstungen allemal. Sei es beim Bogenschießen, das der Göttinger Student Robert Brosch und der Hannoveraner Frank Wiedemann souverän moderierten, bei der Kampfschau mit unterschiedlichsten Bewaffnungen oder der Modenschau, nach der jeder Zuschauer endlich wusste, was der salische wohlhabende Mann „darunter“ trug. Und die ehrbare Frau der ottonischen Ägide hatte stets ein Kopftuch zu tragen, wenn sie auf die Straße ging – völlig jenseits islamischer Vorschriften.

Also hundert Prozent exakte geschichtliche Darstellung? Sylvia Crumbach schüttelte sacht den Kopf, dass ihre Schläfenringe – Symbole einer slawischen Frau – leise klimperten. Detailliert sei die Ausstattung, gewiss, doch die Bedeutung vieler Grabungsfunde, und damit die genaue Verwendung, bleibe oft ungewiss. „Und mit mythologischen oder religiösen Interpretationen befassen wir uns schon gar nicht“, sagte die Duisburgerin. Es gebe auch viele Grenzen der Darstellung. „Wir können ja nicht alle in den Wald auf den Donnerbalken gehen“, lachte Crumbach. Es gebe Tabellen, die Historiker der ehemaligen DDR entwickelt hätten, um die Exaktheit der Darstellung eines Befundes zu berechnen. Sie grübele oft über solchen Berechnungen. Laut überlegte sie: „Wenn wir richtig gut sind, beispielsweise nur selbst gewebte und gefärbte Stoffe verwenden, dann kommen wir auf etwa 55 Prozent Echtheit.“

Oft genug tut sich vor den Gruppen, die sich der lebendigen Geschichte verschrieben haben, ein Problem auf. Scherbenfunde etwa gibt es zuhauf – doch wie wurden die Töpfe hergestellt, wie lange konnten sie genutzt werden, und was wurde in ihnen wirklich gekocht? „Wir probieren es einfach aus“, sagte Crumbach. Lange hat sie selbst mit Ton und Brenntechnik experimentiert. Inzwischen sei sie recht fit darin. Andere greifen manchmal auf Fachleute wie Hannes Klett-Drechsel zurück. Seit 35 Jahren hat sich der Töpfermeister dem Handwerk verschrieben. Im Töpferdorf Fredelsloh in Südniedersachsen ackert er in den selben Tongruben, die schon Menschen vor achthundert Jahren nutzten. „Was man da alles findet, also da wird man automatisch zum Archäologen“, sagte er. In Oerlinghausen ist auch er regelmäßig dabei, um den dort hergerichteten Keramik-Brennofen nach einem Vorbild aus vorrömischer Zeit zu nutzen. Im Inneren glühen Krüge und Töpfe, die der Meister nach Funden aus verschiedenen Jahrhunderten nachgebildet hat. Zusammen mit Studenten der Göttinger Universität unternimmt er oft Experimente, um Brenntechniken vergangener Zeiten neu zu beleben.

Tief tauchen die Darsteller in die Zeit ein. Die so genannten Living-History-Gruppen stecken meist einen Großteil ihrer Freizeit (und viel Geld) in das Hobby. Archäologen, Chemiker, Angestellte, Handwerker – es gibt kaum einen Berufsstand, der nicht in ihren Reihen vertreten ist. Und genau davon profitieren nicht nur die Gruppen selbst, sondern auch die Wissenschaftler. „Wir arbeiten vielleicht nicht nach strengen wissenschaftlichen Vorgaben“, sagte Sylvia Crumbach, „aber wir können wichtige Anhaltspunkte geben.“ Sie verwies auf das Beispiel eines Archäologen, der eine Steinaxt ausprobierte. Er brauchte drei Stunden, um eine Kiefer zu fällen – und rechnete das Ergebnis hoch, um einen Zeitablauf zum Bau eines Hauses zu bekommen. Doch ein Zimmermann schaffte es später in einem Bruchteil der Zeit. Das Zusammenspiel verschiedener Fachkenntnisse ist das Erfolgsgeheimnis der Gruppen. Das konnte Museumschef und Archäologe Karl Banghard nur bestätigen. „Uns werden manchmal die Scheuklappen gelockert durch die Erkenntnisse der Reenacter.“ Zum Beispiel keltische Schwerter: Lange grübelten die Wissenschaftler, warum die Kelten – meisterhafte Handwerker – die Bestandteile ihrer Waffen nur aneinander klemmten oder nieteten, und nicht löteten, was viel haltbarer wäre. „Die Darsteller, die die Schwerter nutzten und auch pflegen mussten, zeigten, dass die Kelten so ihre Waffen leicht auseinander nehmen und reinigen konnten.“ So einfach ist es manchmal.

Die Mitglieder der Szene wühlen sich buchstäblich durch ganz Europa, um Erkenntnisse zu sammeln und Originalschauplätze kennen zu lernen. „Es gibt hier so viel Spannendes zu entdecken“, meinte Karin Prusseit, seit vier Jahren in der Interessengemeinschaft dabei. Ihre Spezialität ist die Herstellung eigener Stoffe für Kleidungsstücke. „Ich will wissen, welche Mühen damals nötig waren, um so etwas zu fertigen.“ Nicht selten arbeiten die Gruppen europaweit eng zusammen, tauschen sich Erkenntnisse – etwa zur Glasherstellung – auf Internetseiten oder in Workshops aus. „Europa ist gewissermaßen unsere Spielwiese“, sagte Prusseit, auch sie war in der Tracht einer Slawin des 11. Jahrhunderts in Oerlinghausen.

Wer so eng mit der Darstellung einer bestimmten Zeit verbunden ist, nimmt der nicht eine bestimmte Rolle an? Brosch: „Klar sind wir irgendwo auch Kleindarsteller, ich spiele ja etwas nach.“ Nur soweit, seinen Figuren – der Göttinger ist auch als Germane vom Stamm der Chasuari unterwegs – einen Namen zu geben, werde es nicht kommen. Doch mit welchem Selbstverständnis die Darsteller auch immer auftreten, der englische Journalist Bryan Betts, als Wikinger im Gelände unterwegs und seit 20 Jahren in der Szene, bringt es auf den Punkt: „Wir wollen Wissen weitergeben.“

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1 Kommentare

  1. Living History, Reenactment… schön und gut, aber die Arroganz zu besitzen, interressierte, experimentierfreudige Menschen vor der Tür abzuweisen, nur weil sie nicht ihr gesamtes Geld und ihre gesamte Freizeit in eine “authentische” Gewandung stecken können finde ich sehr schade. Gerade solche Menschen könnten doch ungemein von der Veranstaltung profitieren und im Austausch mit Anderen Ideen und Erfahrungen sammeln. So sieht es mehr wie Selbstbeweihräucherung der “Perfekten” aus. War denn damals jemand dabei? Was ist denn authentisch?

    …nur mal zum darüber nachdenken…

    29. Oktober 2005, 21:10 Uhr • Melden?
    von Nordmann
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