Völkerschlacht 1813 Ein Dorf geht auf Zeitreise

Viele Dörfler engagieren sich seit Jahren für die Geschichtskultur rund um das Jahr 1813; auch der Nachwuchs steht schon bereit. © Liebertwolkwitz 1813 / Hülse

Liebertwolkwitz, 14. Oktober 1813: Ein Kavalleriegefecht zwischen Napoleons Truppen und denen der Alliierten bildet den Auftakt zur Leipziger Völkerschlacht. 200 Jahre später erinnern die Liebertwolkwitzer an den Schicksalstag.

Krieg zerstörte Gemeinschaft

Österreicher, Preußen und Russen auf der einen, die Franzosen mit ihren Verbündeten auf der anderen Seite – in jenem Oktober 1813 trafen sie im Dorf Liebertwolkwitz, wenige Kilometer südöstlich von Leipzig, erstmals aufeinander. Das Dorf wechselte an jenem Tag mehrmals den Besitzer. Innerhalb weniger Stunden lag Liebertwolkwitz zum größten Teil in Trümmern.

An das Schicksal seiner Bürger erinnern – in Anlehnung an das Gedenken zur Leipziger Völkerschlacht – die modernen Liebertwolkwitzer. Und das tun sie schon seit Jahrzehnten. Heute spielt ein beträchtlicher Teil der jetzigen Bewohnerschaft beim Erinnern mit. „Liebertwolkwitz – wie es wirklich war“ lautet das Motto, unter dem viele Bürger in historische Rollen ihrer Vorfahren schlüpfen und das ganz normale Leben um 1800 wieder lebendig werden lassen.

Seit Liebertwolkwitz 1999 in die Großstadt Leipzig eingemeindet wurde, hat sich das dörfliche Reenactment „als regelrecht identitätsstiftend erwiesen“, sagt Lutz Zerling, Ortsvorsteher von Liebertwolkwitz und Vorstand der Hofgenossenschaft Stiftsgut. Er stand uns Rede und Antwort zu den Wurzeln des Reenactments im Dorf sowie zur Verlagerung des Schwerpunkts auf das zivile Leben, zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht und den zukünftigen Plänen. Die Gemeinschaft hat rund um das große Spektakel in Leipzig im Jahr 2013 ein eigenes Programm auf die Beine gestellt: vom 16. bis 20. Oktober.

Historische Kinderspiele auf dem Liebertwolkwitzer Marktplatz. © Liebertwolkwitz 1813 / Rudolf

Das Interview

Sebastian Homburg: Ganz klar; 2013 stehen die 200-Jahr-Gedenkveranstaltungen zur Leipziger Völkerschlacht im Mittelpunkt. Wir würden uns freuen, wenn du uns einen neugierigen Blick hinter die Kulissen gestattest. Wie ist denn das Stiftsgut Liebertwolkwitz eingebunden? In dem offiziellen Organigramm des Verbandes Jahrfeier 1813 taucht ihr beispielsweise gar nicht auf.

Lutz Zerling: Wir sind in Liebertwolkwitz zwei Veranstalter: Der Interessenverein Völkerschlacht bei Leipzig 1813 e.V. (militärhistorischer Bereich) und die Hofgenossenschaft Stiftsgut Liebertwolkwitz eG (zivilhistorischer Bereich). Wir organisieren eigene Veranstaltungen, die mit der Steuerungsgruppe der Stadt Leipzig abgestimmt sind. Der Verband Jahrfeier Völkerschlacht bei Leipzig (VJV) versteht sich als der Veranstalter des Reenactments, ist es aber nicht. Deshalb tauchen wir, wie auch das Torhaus Dölitz und andere, dort nicht auf. Wir haben lediglich vertragliche Bindungen bezüglich der in Liebertwolkwitz einquartierten und an der Gefechtsdarstellung des VJV teilnehmenden Truppen.

Die Programmteile für Oktober stehen ja fest. Wie ist denn die Programmentwicklung gelaufen? Es sind schließlich sehr viele verschiedene Akteure, die unter einen Hut zu bringen sind.

Aufgrund des ursprünglichen Alleinvertretungsanspruches des VJV und der recht selbstgefälligen Art einiger Stadtoberen mussten wir regelrecht um unsere Programmpunkte kämpfen. Zwischenzeitlich sind wir, wenn auch mehr am Rande, im großen Veranstaltungsflyer aufgenommen und werden allmählich, wie Partner auf Augenhöhe, um Unterstützung gebeten.

Klingt nicht wirklich begeistert. Wie ist das zu verstehen?

Um es etwas einfacher und nachvollziehbar auszudrücken: Die Stadt Leipzig hat eine so genannte „Steuerungsgruppe“ für das Doppeljubiläum einberufen. Der gehörten wir ursprünglich an. Doch zwischenzeitlich entschied man sich wohl der Einfachheit halber dafür, den militärhistorisch orientierten Verband in Markkleeberg als alleinigen Vertreter des gesamten Reenactments für das Doppeljubiläums zu benennen. Die beiden Leipziger Standorte Dölitz und Liebertwolkwitz sind aber gar nicht in diesem Verband vertreten. Der VJV vertritt mit Unterstützung der Stadt Markkleeberg einzig und allein seine Interessen. Das ist ja auch okay. Schlimmer ist, dass die Stadt Leipzig selbst ihre Standorte hinten runterfallen lässt und nur den VJV hofiert.

Doch heute hat sich alles etwas normalisiert. Wir haben unter den Militärdarstellern einen solchen Zuspruch, dass wir auswählen können, wer hier einquartiert wird. Auch unsere beiden Großveranstaltungen neben dem Dorftreiben – die Modenschau im Park des Schlosses Güldengossa (Donnerstag, 17. Oktober 2013 ab 19 Uhr, Anm. d. Red.) und eine zivil- und militärhistorische Vorführung mit Tribünenplätzen auf dem historischen Schlachtfeld südlich von Liebertwolkwitz („An den Wachtfeuern der Völkerschlacht“ am Samstag, 19. Oktober, ab 17 Uhr, d. Red.) sind heute akzeptiert und am Rande des großen Programms der Stadt aufgeführt.


(Vorbericht zu 200 Jahre Völkerschlacht; Interview mit Leiter der Steuerungsgruppe Volker Rodekamp; Quelle: Leipzig-Fernsehen)

Davon lasst ihr euch offenkundig nicht den Spaß verderben. Ist es richtig zu sagen, dass ihr euren Schwerpunkt auf das zivile Leben im frühen 19. Jahrhundert legt? Das unterscheidet euch schon von vielen anderen Mitwirkenden.

Das ist wahr! Außerdem geht es uns um die Zeit um 1800 im weiteren Sinne: das Leben, das Handwerk usw. Darin stellt natürlich die Völkerschlacht gerade in unserem Dorf einen deutlichen Einschnitt dar.

Wie schätzt du die Quellenlage ein, um das zivile Leben Anfang des 19. Jahrhunderts fundiert darzustellen? Worauf fußen eure Aktionen?

Quellen für „nichts sagendes Alltagsleben“ sind immer schwierig! Aber wir haben zum Beispiel den seit über 30 Jahren arbeitenden militärhistorischen Verein, eben diesen Interessenverein Völkerschlacht, und somit sehr viele historische Quellen wie Kirchenbücher, Augenzeugenberichte etc. aus den Tagen der Völkerschlacht. Darin sind unter anderem die 1813 beschädigten und heute noch stehenden Gebäude, die Namen der Hausbesitzer und Handwerker, Versicherungssummen, Eidesformeln usw. zu finden. Daraus wurde dann unter anderem die „Schadensbegehung“ rekonstruiert.

Der Wasschplatz im Dorf. © Liebertwolkwitz 1813 / Lehmann

Gibt es da eigentlich vieles richtig zu stellen? Der Titel eures Projekts lautet ja „Liebertwolkwitz – wie es wirklich war“. Das legt die Vermutung nahe, dass es einigen historischen Unfug aufzuarbeiten gibt?

Dies war ein ausschlaggebender Punkt, dass wir die Sache überhaupt angefangen haben! Überall, ob in Austerlitz, Jena, Waterloo, an der Katzbach usw., wo die Szene der Napoleonik sich trifft, werden Zelt-Biwaks aufgebaut. Nun war es aber so, dass damals keinesfalls jeder Soldat mit einem Zelt auf dem Rücken durch Europa gerannt ist. Im Gegenteil: Der Normalfall war die Einquartierung im Dorf, bei Bauern und Handwerkern, mit Billettieramt in der Bürgermeisterstube, Billettierscheinen und der Abrechnung der Unkosten für die Versorgung durch die Quartiergeber, also Dorfbewohner, danach im Bürgermeisteramt. So wie es wirklich war …

Wie gestaltet ihr dieses zivile Leben konkret aus? Was erwartet mich als Besucher, wenn ich bei euch vorbeikomme?

Das hier zu erzählen wird mir zuviel! Bitte mal einen unserer Werbe-Filme auf unserer Homepage anschauen. Oder direkt bei youtube ansehen. (Wo es zB den Film “Liebertwolkwitz – ein Dorf zur Zeit der Völkerschlacht” von Karl-Heinz Lehmann zu sehen gibt; Anm. die Red.):

Was ich mir immer noch nicht wirklich vorstellen kann, sind die vielen ehrenamtlichen Darsteller aus Liebertwolkwitz selbst. Wie bekommt man denn so viele Zeitgenossen dazu, in historische Rollen zu schlüpfen, soviel Zeit und Engagement da hineinzustecken? Und wie haltet ihr eure Leute bei der Stange?

Dazu braucht man zwei, drei Köpfe, die die Leute kennen und sie begeistern können, und das ist fast alles. Nach unserer Zwangseingemeindung 1999 verlor das Gemeinwesen doch etwas an Leben und so hat sich dieses Projekt als regelrecht identitätsstiftend erwiesen!

Wie läuft da die konkrete Vorbereitung des einzelnen? Wie lernt ihr eure Rollen? Du hast erzählt, dass sogar Kinder mitmischen.

Nun, da gibt es zum Beispiel einzelne Gruppen, wie die Theatergruppe der Gerichtsverhandlung. Die üben regelrecht und lernen Texte. Wir sind kein Verein mit regelmäßigen Treffen, aber einige übernehmen als Vereine einzelne Aufgaben und bereiten diese vor: Die Grundschule übernimmt das Märchenspiel, der Karnevalsclub das fahrende Volk, der Siedlerverein den Windmüller und sein Team usw.

Du selbst bist der „olle Liebner“, weil du zufällig im gleichen Haus wohnst? Der Liebner war doch Pferdner, kennst du dich überhaupt mit Pferden aus?

Ja, seit 1876 lebt meine Familie auf dem Hof des damaligen Johann Gottfried Liebner von 1813. Später hatte mein Großvater neben seinem eigenen noch zwei weitere Höfe mit Land hier in Liebertwolkwitz gepachtet und bewirtschaftete so ca. 400 Hektar. Unser Hof war bis in die 1970er Jahre noch LPG-Hof (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft; Anm. d. Red.) und ich habe Landwirtschaft, also Pflanzenproduktion, studiert.

Und wie steht’s mit Pferden?

Zum Pferdner: Dies war in der damaligen Zeit ein üblicher Begriff für reichere Bauern, die gewisse hervorgehobene Rechte, aber auch Pflichten hatten. Er stammt ursprünglich davon ab, dass derjenige, der auf einem Pferdnergut saß, soviel Land hatte, dass er sich Pferde leisten konnte. Die waren wesentlich teurer im Unterhalt als Ochsen. In Liebertwolkwitz gab es um 1800 sechs Pferdnergüter und diese Pferdner bildeten die so genannte große Gemeinde. Daneben gab es die kleine Gemeinde der übrigen Haus und Land Besitzenden. Beide hatten einen eigenen Bürgermeister.

Danke. Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, ob du reiten kannst.

Kann ich nicht!

Spielszene 2010: Pferdner Liebner (Lutz Zerling, links) verhandelt mit dem Gerichtsverwalter Günther und seinem Schöppen einen Schadensfall. © Liebertwolkwitz 1813

Arbeitet ihr dann überhaupt mit auswärtigen Darstellergruppen zusammen? Wie kommt man denn als Darsteller aus der Napoleonik nach Liebertwolkwitz?

Liebertwolkwitz ist in der Szene bekannt. Erstens: Historisch bedeutend ist es insbesondere durch die Ereignisse am 14. Oktober 1813. Zweitens: Seit über 30 Jahren gibt es hier den militärhistorischen Verein, der schon zu DDR-Zeiten unter schwierigen Bedingungen die Erinnerung an die Völkerschlacht wach gehalten hat und Gefechtsdarstellungen mit mehreren zigtausend Besuchern auch noch nach der Wende organisierte. Drittens: Seit 2008, als wir unser „Dorf“ erstmals durchführten, waren schon viele aus der Szene hier, waren begeistert, weil es sonst nirgendwo so ist, dass die Soldaten in einem echten Dorf mit Zivildarstellern zusammenleben. Die Mund-zu-Mund-Propaganda tut dann ihr übriges!

Beispiel: Aus meinen bisher circa 60 Sachsen auf dem Hof werden dieses Jahr circa 110. Ich muss im Frühjahr noch einen alten Spitzboden erschließen! Wir haben letztes Jahr auch erstmals Interessenten ablehnen müssen, weil wir ausgebucht waren. Für dieses Jahr werden wir im Ort bei 850 Einquartierungen und circa 100 Pferden deckeln müssen, die wir mit bisherigen Anmeldungen schon erreicht haben!

Was hat das Ganze eigentlich mit dem Stiftsgut zu tun? Ich meine, da gibt es einen Interessenverein Völkerschlacht bei Leipzig 1813, eine Hofgenossenschaft für das Stiftsgut und nebenbei bist du auch noch Ortsvorsteher. Also alles ganz normaler Dorfklüngel?

Dorfklüngel? Ja, wenn man es so ausdrücken will. Von 5000 Bewohnern machen circa 350 mit und es gibt zwei bis vier “ganze” Köpfe und vier “halbe”. Einer ist Heimatvereinsvorsitzender, einer Präsident vom Interessenverein, einer im Kirchenvorstand, einer Handwerksmeister, zwei Landesinnungsmeister, einer Ortsvorsteher, einer Präsident des Dösener Carnevalsclubs und einer Vorstand der Hofgenossenschaft, eine ist im Stadtrat, einer Wehrleiter der Freiwilligen Feuerwehr usw. Die aktiven Köpfe sind immer begrenzt und wenn jemand etwas macht, dann oft nicht nur eine Sache …

Ach ja, von unseren 37 Mitgliedern der Hofgenossenschaft sind immerhin elf nicht aus Liebertwolkwitz!

Wo sind die Wurzeln, sich überhaupt mit dem Dorf um 1813 zu beschäftigen? Und welchen Zweck hat dann heute das Projekt Stiftsgut?

Siehe oben. Liebertwolkwitz hat einmal im Fokus der Weltgeschichte gestanden: am 14. und 16. Oktober 1813 und sonst kaum. Das Projekt Stiftsgut geht über 1813 hinaus. Ziel ist es, einen Gewerkehof zu etablieren, der historisches Handwerk erlebbar macht, der zu einem Austausch von Geschichte, Erfahrungen und Traditionen historischen Handwerks entlang der Via Regia beiträgt. Ach so, wir sind hier übrigens die Regionalstelle Leipzig im Landesverband Via Regia.

Ihr renoviert das Stiftsgut nach und nach? Wie authentisch geht’s dabei zu, korrekt bis zum letzten Nagel, oder was lässt die Quellenlage zu? Und könnte ich ein Wochenende lang zum Workshop „Bauen im frühen 19. Jahrhundert“ kommen?

So nicht ganz korrekt, denn Vieles steht nicht mehr und muss komplett nachgebaut werden. Bis zu dem Workshop ist es noch ein langer Weg, aber angedacht ist er.

Gretchenfrage: Wo kommt das Geld für euer Privatvergnügen her?

Wir sind eine Genossenschaft, arbeiten alle ehrenamtlich, bekommen nur geringe Projektförderung, im Oktober beispielsweise 1000 Euro für Künstlerhonorare vom Leipziger Kulturamt. Wir wollen aber auch eigentlich wirtschaftlich unabhängig sein und erarbeiten uns unsere Mittel über Eintrittsgelder, ehrlichen Zehnt und private Spenden!

Letzte Frage: Wie und wann ist denn das Stiftsgut für Besucher zugänglich?

Auf Anfrage kann man eine Führung machen. Ansonsten: Maien-Markt, Tag des offenen Denkmals, Oktober-Spektakel, Hof-Advent und Januarfeuer. Und mal sehen, was da noch kommt. Auf dem aktuellen Stand bleibt man beim Besuch unserer Homepage.

Die Spinnerin bei der Arbeit. © Liebertwolkwitz 1813 / Böttcher

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