Schlechte Saat Die Wikinger vom Leinetal

Die Metamorphose beginnt am knorrigen Gartentor. Als Uwe Fricke schiebt sich der 43-jährige Alfelder am Ungetüm aus Weidengeäst vorbei; als Udal, Anführer (Jarl) einer Wikingertruppe, betritt er das Grundstück. Udal steht auf dem leicht abschüssigen Hang am Rande des Leinestädtchens in Niedersachsen. Er streicht über seine geflochtenen Bartzöpfe, der Blick gleitet über Badehaus, Schafstall und Schuppen bis zum Langhaus. Udals Augen weiten sich stolz. „Bei allem, was wir bauen, richten wir uns nach Grabungsfunden“, sagt er. Auf der Streuobstwiese wächst seit eineinhalb Jahren eine authentisch nachempfundene Wikingersiedlung.

Haithabu ist ein Vorbild

25 Menschen – der Jüngste ist elf, der Älteste 60 – fanden sich vor drei Jahren zusammen. Ihr Traum ist die gemeinsame Reise in die Vergangenheit. Alfeld stellte der Gemeinschaft das 7500 Quadratmeter große Grundstück zur Verfügung. „Ein absoluter Glücksfall“, meint Andreas Monden. Im zivilen Leben ist der 45-Jährige EDV-Administrator. Im Lager nennen ihn alle nur Angus. Er ist der Waffenmeister der „Schlechten Saat“. Der Name der Gruppe verweist auf historische Tatsachen.
Vor tausend Jahren gab es an der Nordseeküste, nahe der alten Wikingersiedlung Haithabu, oft Probleme, dem Boden ausreichend Nahrung abzuringen. Bunt zusammengewürfelte Kriegertruppen unternahmen deshalb Raubzüge – sie gingen auf „Viking“. Eine solche Truppe stellen die Leute der „Schlechten Saat“ dar. Auch das ist der Grund, warum die Mitglieder vergleichsweise prunkvoll ausgestattet sind. Sie seien eben keine einfachen Bauern, sagen sie.

An jedem Wochenende, im Urlaub und auf vielen mittelalterlichen Veranstaltungen tauchen die „Wikinger“ in die Vergangenheit ab. Die Siedlung bei Alfeld ist ihr Basislager und Zeitmaschine zugleich. Mehrere Baugruben vor dem Langhaus zeigen, dass sie viel vorhaben. „Wir bauen noch Wohnhütten, wie sie in Haithabu gestanden haben könnten“, sagt Udal. So originalgetreu wie möglich, bis hin zum mit Schweinehaut bespannten Fenster und dem Hirsebrei nach getaner Arbeit. „Das ist für uns Entspannung pur“, sagt Sunna, alias Krankenschwester Monika Klein.

Aufs Detail versessen

Die Lust am Mittelalter packte die Ersten 2002 auf einem klassischen Mittelaltermarkt. „Danach haben wir uns immer intensiver damit beschäftigt“, erzählt Sonja Fricke, alias Ymme – die Frau von Udal, dem Jarl. Rasch fand sich eine zueinander passende Gruppe zusammen: Bosi (Bruno Heise) der Schuhmacher, Arkus (Markus Hoppe) der Maurermeister oder Ragnar (Mike Hagemann) der Masseur. Seine Fähigkeit ist nach anstrengenden Einsätzen gefragt. Kein neues Bauwerk, kein Schmuckstück oder Werkzeug bleibt von ihm unangetastet. Mit schlafwandlerischer Sicherheit tastet er sich durch Formen aller Art. Auch sein Hals ist mit Nachbildungen der kunstvollen Glasperlenketten geschmückt. Gesehen hat er sie aber noch nie: Ragnar ist blind. Auf die Märkte begleitet er seine Freunde dennoch. „Wir führen ihn einmal durch das Lager, dann hat er sich jeden Weg gemerkt“, sagt Angus. Der bedächtige Gang von Ragnar, dem rotblonden Wikinger, ist auf immer mehr Veranstaltungen bekannt.

Nicht mehr als zehn Veranstaltungen pro Jahr bestückt die „Schlechte Saat“ mit ihrer Ausrüstung. Inzwischen fragen immer öfter Veranstalter bei ihnen an. Die Auswahl sei nicht immer leicht, sagen sie. „Wir sind anspruchsvoll. Aber vor allem soll das, was wir tun, uns auch Spaß machen“, meint Angus. Will heißen: Bieten Events genügend handwerkliche Highlights und stimmt der Umgang zwischen Veranstalter und Darstellern – dann ist die „Schlechte Saat“ auch auf Märkten zu finden, die keinen durchgehend authentischen Anspruch haben. Sie selber nehmen es mit ihrer Darstellung indes sehr genau. Sie sind keine Rollenspieler, und doch muss jedes Mitglied eine Hintergrundgeschichte haben, die zu 100 Prozent mit dem Background der anderen zusammenpasst. Auf diese Weise sichern sie ein stimmiges Bild als Söldnergruppe um 1050.

Und so muss auch der „Araber“ der Truppe zum Gesamtbild passen. Hakim, alias Björn Löbke, ist Lehrer in Celle. Die Rolle des arabischen Händlers muss er noch auf die Gruppe zurechtstutzen. Er ist erst seit kurzem dabei. Wie im Buch „Der 13. Krieger“ vermittelt, beruht die Anwesenheit von Arabern bei den Wikingern auf Tatsachen. „Das ist absolut stimmig“, sagt Hakim.

Offen für Besucher

Aus der Feuerstelle im Langhaus quillt der Rauch durch die Dachluke und streicht an glatten Holzplanken entlang. „Die Schnitzereien kommen später“, erklärt Udal. Bis zum nächsten Jahr soll das Lager vorzeigbar sein. Dann wollen die Alfelder ihre Siedlung für Besucher öffnen. Möglicherweise nimmt die Stadt das Lager in ihr Ferienprogramm für Kinder auf. Sie könnten dann mit Bosi die Schafe füttern, mit Riana und Rowenna Wolle spinnen und mit Arkus Holz bearbeiten.

Schon jetzt können interessierte Besucher bei der „Schlechten Saat“ vorbeischauen. Die Alfelder kommen sowieso gerne auf ihren Spaziergängen am Lagertor vorbei. So manchem mundet dabei auch der selbst gebraute Met von Arkus. Der Genuss soll schließlich nicht zu kurz kommen. Dass sie dennoch mit Liebe zum Detail arbeiten, das zeigt ein kurzer Blick auf die Ausrüstung und jegliches Fehlen moderner Accessoires im Lager. Reenactors nennen sie sich dennoch nicht. Angus führt einen simplen Grund dafür auf: „Das würde zu viel Stress bedeuten“, sagt er mit Blick auf die mittelalterliche „A“-Szene. So arbeiten sie lieber im Stillen an ihrer Vervollkommnung. Die Geschichte bietet ihnen viele Möglichkeiten dafür.

Hildesheimer Chroniken berichten von Wikingerzügen auf der Leine um 1000. Ihretwegen ließ der Hildesheimer Bischof Bernward mehrere Wehrburgen errichten. Und irgendwann, so die Überlieferung, sei auch eine Wikingergruppe auf Kriegszug in der Nähe von Alfeld gestrandet. „Das würde zu uns richtig gut passen“, grinst Angus. Als gäbe es mit den Bautätigkeiten im Lager nicht genug zu tun, entwickelt er schon weitere Pläne. „Ein nachgebautes Drachenboot, das wär was…“ Das hört sich nach Zukunftsmusik an. Doch Zeit ist relativ, das beweist die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der das Wikingerdorf wächst.

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2 Kommentare

  1. eure gruppe ist mir schon länger bekannt, leider stelle ich einen kelten dar 480-450 v.Chr. frühlatenezeit. seit 14 jahren nimmt eine vorstellung eines historischen dorfes langsam gestallt an. große präsentation am 31 januar gehabt, leider ist unsere region nicht so leicht für unsere geschichte zu begeistern. umso öfter sehe ich mir die bilder eures dorfes an. eigentlich haben wir wahrscheinlich viele gemeinsame bekannte, michael hirth und turid kommen vom 10-12 juli sogar an den bayrischen untermain zu meinem historischen markt, die danelag und markwölfe sind aus meinem nachbarort,
    zu meinen unterstützern gehören viele wikingerdarsteller am untermain. wenn euch ein gewandeter kelte gerne besuchen wollte wie wäre eure antwort?
    Arras der kelte, clanführer der genii loci

    19. Februar 2015, 15:02 Uhr • Melden?
    von Arras
    1
  2. Hallo Arras, hier unser Link und Kontaktdaten:

    Die Schlechte Saat

    29. März 2015, 11:03 Uhr • Melden?
    von
    2

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