Mongolen-Roman Ein Mensch namens Dschingis Khan

Aus dem Herzen der mongolischen Steppe eroberte ein Nomadenvolk im Hochmittelalter ein riesiges Reich. Galsan Tschinag ist ein Nachfahr der Reiterkrieger. Er nähert sich in seinem Roman den menschlichen Seiten des Großkhans.

Eroberung als historischer Rahmen

Dschingis Khan, ozeangroßer Herrscher des mongolischen Weltreiches, liegt im Sterben. Nicht beim heldenhaften Kampf gegen eine feindliche Armee, nicht in einer Schlacht wurde er verwundet. Ausgerechnet durch einen Sturz vom Pferd hat sich der Reiterfürst die tödlichen inneren Verletzungen zugezogen, die ihn in Fieberträume und Gedankenströme über sein Leben und seinen Tod ziehen. So beschreibt es der mongolische Autor Galsan Tschinag in seinem Buch „Die neun Träume des Dschingis Khan“, das 2007 bei Insel erschienen ist.

Im Jahr 1190 eint Dschingis Khan die rivalisierenden mongolischen Sippen, die im Nordosten der heutigen Mongolei siedeln. Unter seiner Führung beginnen die Mongolen die benachbarten Steppenvölker zu unterwerfen. Aufgrund seiner Erfolge wird er 1206 von Stammesfürsten und Schamanen zum Großkhan aller Mongolen ernannt und mit dem Titel „ozeangleicher Herrscher“ ausgezeichnet. Nach der Einigung des Reiches wendet sich Dschingis Khan der Eroberung Chinas zu, sein Reich dehnt sich schließlich im Osten bis an das Japanische, im Westen bis zum Kaspischen Meer aus.

Die Belagerung einer Tanguten-Stadt, die nicht bezwungen werden kann, dient als Rahmen der Handlung des Romans im Jahr 1227. Doch Galsan Tschinag, der Mitte der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie in der Mongolei geboren wurde, wendet sich nicht den kriegerischen Auseinandersetzungen zu, sondern den Gedanken, den Phantasien, den neun Träumen, die den große Herrscher in der Spanne zwischen seinem Sturz und seinem Tod auf seinem Krankenlager durchfluten – bei mehr oder weniger klarem Bewusstsein.

Sprachgewalt jenseits von Klischees

Große Lebensthemen werden hier aufgeworfen: Sieg und Niederlage, Verrat und Vergeltung, Macht und Tod; Dschingis Khan phantasiert, reflektiert, liebt und erlebt und rechnet ab – auch mit sich selbst. Tschinag, der in der Hauptstadt der Mongolei Ulan Bator als freier Autor lebt und gleichzeitig Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa, einer ethnischen Minderheit in der Mongolei ist, bezieht sich in seinem Buch auf belegte Ereignisse aus der Geschichte des Khan.

Aber nicht die Historie steht im Mittelpunkt des Romans, sondern die innere Psychologie des Mongolenherrschers. Nicht das Klischee eines Reiterfürsten begegnet dem Leser. Der Autor Tschinag, der mit seiner Sippe viele Monate im Jahr als Nomade im Altaigebirge in der Nordwestmongolei lebt, führt keine seelenlose Kampfmaschine vor. Er zeigt Dschingis Khan als einen Menschen, der nach innerer Ordnung und Rechtfertigung strebt, in dessen Welt nichts ohne Ursache und Wirkung bleibt, der berührt durch die Tiefe seiner kindlichen Aufrichtigkeit, in der sein Größenwahn immer spürbar bleibt. Und der letztlich wie jedes lebende Wesen dem Alter, der Schwäche, dem Tod nicht ausweichen kann.

Seine literarischen Arbeiten – Romane, Erzählungen, Gedichte – verfasst Tschinag, der in den 60er Jahren im sächsischen Leipzig Germanistik studierte, in deutscher Sprache. Er agiert dabei mit einer Sprachgewalt und einem Erfindungsgeist, von dem sich andere Autoren gerne eine Scheibe abschneiden können. Sein Werk ist nichts für Freunde einer knappen, sachlichen Sprache, ist keine leichte Lesekost, sondern anspruchsvoll bis in die letzte Zeile. Manchmal schwappt es an der Grenze zur Schwülstigkeit, dann durchkriecht es wieder Niederungen des sprachlichen Ausdrucks, manchmal ist es ein wenig langwierig, dann wiederum reißt es den Leser mit sich wie ein Fluss, spült ihn an einem anderen Ufer wieder an die Oberfläche.

Am Ende fällt die belagerte Festung. Am Ende fällt auch der Großkhan, auf eigenen Beschluss, er hat über sich selbst das Todesurteil verhängt und beschließt den eigenen Lebens- und Gedankenreigen. Das Buch von Galsan Tschinag, der immer wieder auf Lesereisen nach Deutschland kommt, ist eine Horizonterweiterung in vielfachem Sinn. Wie weit der Leser dem Autor dabei folgen kann, muss er für sich selbst entscheiden.

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