Herculaneum Der jüngste Tag am Vesuv

Der Historiker Sisenna schwärmte von Herculaneum. Die römische Kleinstadt lag in schönster Panoramalage am Golf von Neapel, ihr Hafen, schrieb er, sei „zu jedem Zeitpunkt sicher“. Er war es, bis er in der Nacht zum 25. August 79 n.Chr. für hunderte Menschen zur tödlichen Falle wurde. Das Unheil kam nicht vom Meer, sondern von einem der schönsten Vulkane der Welt – dem Vesuv. Die Katastrophe bescherte der Archäologie ein düsteres, aber kostbares Erbe: eine vollständig erhaltene römische Kleinstadt.

Ein Provinznest wird entdeckt

Rund 4000 Menschen lebten im Jahr 79 in Herculaneum. Als Provinznest war das Leben weniger hektisch als in der benachbarten großen Schwesterstadt Pompeji – die Wagenspuren auf den Straßen und die fehlenden Reklametafeln beweisen das. Der Ort hatte ein Theater mit fast 2000 Plätzen, fünf Hauptstraßen, Thermen, öffentliche Plätze mit den üblichen Kaiserstatuen, einen Verwaltungssitz, Märkte und eine für römische Kleinstädte typische Bevölkerung. Die Männer waren leicht in der Überzahl, kaum zehn Prozent der Menschen wurden älter als 50 Jahre, Männer maßen im Schnitt 1,60 Meter, Frauen 1,50 Meter. Fast drei Viertel litten an Arthrose – auch Kinder – was an der vorwiegend schweren Arbeit lag. Viele Männer übten Tätigkeiten aus, die mit dem Fischfang zusammenhingen, sie setzten ihre Zähne dafür ein. Und schließlich ernährten sich die meisten Bewohner vegetarisch und litten an Bleivergiftungen – eine Nebenwirkung der Trinkwasserrohre aus Blei.

Diese Erkenntnisse sind zwei Begebenheiten zu verdanken: Zum einem dem Vesuvausbruch, der am 24. August 79 zur Mittagsstunde begann und bis zum nächsten Vormittag andauerte, wobei im Umkreis von 15 Kilometern Asche und Bimsstein nicht nur Herculaneum, sondern auch Pompeji bedeckten. Und schließlich einem fleißigen Bauern, der 1710 einen Brunnen grub, um seinen Gemüsegarten zu bewässern. Er lebte im Städtchen Ercolano, das erst im Mittelalter gegründet wurde (und zunächst Resina hieß). Der Bauer hackte sich durch eine gut 20 Meter dicke Tuffsteinschicht und stieß geradewegs auf das Bühnenhaus eines antiken Theaters. Damit begann eine der faszinierendsten Entdeckungsgeschichten der Archäologie. Sie hält bis heute an – noch immer ist die Stadt erst zu einem Drittel freigelegt.

Herculaneum: 13 Uhr

Wissenschaftler verschiedenster Fachgebiete trugen jetzt ihre Ergebnisse zu einer Ausstellung zusammen. Sie ist noch bis zum 21. Mai im Bremer Focke-Museum zu sehen. Der Begleitkatalog kommt vom Mainzer Verlag Philipp von Zabern und ist ein faszinierender Einblick in den römisch-provinziellen Mikrokosmos von Herculaneum.

Die Essays stammen aus der Feder von Experten im jeweiligen Gebiet und umfassen das Spektrum der Erkenntnisse. Zum Beispiel den exakten Ablauf des Untergangs. Beinahe minutiös rekonstruierten Geophysiker und Vulkanologen die Ereignisse – nach Befunden und nach dem einzigen schriftlichen Augenzeugenbericht. Plinius der Jüngere hinterließ Briefe, in denen er den Tod seines Onkels, Plinius der Ältere, beschrieb. Der Historiker war Flottenkommandant in Misenum und starb bei einer Rettungsaktion im Ascheregen. Den Bericht des Plinius nahmen die Herausgeber in das Buch auf.

Die Rekonstruktion: Gegen 13 Uhr am 24. August schossen Magmamassen mit rund 400 Meter pro Sekunde aus dem Schlot. Einige Tage zuvor gab es zwar Erdbeben, aber keine „Vorwarnung“ durch den Vesuv selbst. Rund 20 Kilometer erstreckte sich zunächst eine Säule aus Bimsstein und heißer Asche in den Himmel, die im Umkreis von 15 Kilometer herabregnete. Das war es, was Pompeji unter sich begrub und die Dächer einstürzen ließ. Herculaneum war kaum davon betroffen. Wohl deshalb begann die Evakuierung der Stadt sehr spät. Der Tod kam gegen ein Uhr nachts, als die Säule instabil wurde und in sich zusammenfiel. Als „pyroklastische Lawine“ – also eine Mischung aus heißer Luft, Vulkanasche und Geröll – wälzte sich in Bodennähe in Richtung Golf. Bis zu 400 Grad heiß und mit 100 Kilometer pro Stunde. Menschen, die sich zu dieser Zeit noch in der Stadt aufhielten, hatten keine Chance. Mehr als 300 Skelette und Abdrücke menschlicher Körper fanden Archäologen später. Die meisten Skelette lagen dicht aneinander gedrängt in den Bootshäusern am Hafen. Ihre Flucht in letzter Minute war fehlgeschlagen. Bis zum nächsten Tag folgten fünf weitere Lawinen.

Mit einer gewissermaßen „nüchternen Dramatik“ beschreiben die Autoren die letzten Stunden der Stadt. Sie führen den Leser durch rekonstruierte Straßen, durch eine großartige Villa, in der mit rund 1100 Papyri die einzige Bibliothek der römischen Antike gefunden wurde, werfen einen Blick in das Theater und andere öffentlichen Bauten und schauen bis in die Küchen und Kinderstuben der einfachen Menschen. Nicht in Pompeji, nur hier fanden Wissenschaftler karbonisierte Reste von Mahlzeiten, Holzmöbel – darunter eine Wiege – und andere organische Überreste.

Die Bildauswahl ist überwältigend. Prächtige Malereien und Skulpturen, einfache Haushaltgeräte, faszinierende Fotos der Ausgrabungsstätte, Satellitenbilder und detailreiche Rekonstruktionen wechseln einander ab. Abgerundet wird die Darstellung durch die bunte Grabungsgeschichte, die nicht minder spannend ist als die Auswertung der Ergebnisse. Fürsten und Intellektuelle vergangener Epochen waren beteiligt, bis die Wissenschaftler ans Werk gingen. Was sie fanden, sind die Botschaften von Menschen, wie sie so vollständig nur selten die Gegenwart erreichen.

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