Alexandria 642 Das Wissen der antiken Welt

Konstantinopel 1158: Die Gesandtschaft des Normannenkönigs Wilhelm I. von Sizilien weilt zum Gipfeltreffen am Hof des byzantinischen Kaisers Manuel I. Auf dem Programm stehen Friedensgespräche. Als Geschenk für seinen Herrn bekommt der Sprecher der Normannen, der sizilianische Archidiakon Henricus Aristippus, eine griechische Handschrift. Ein kostbares Exemplar des berühmten Hauptwerkes des antiken Astronomen und Geografen Claudius Ptolemaios (um 100-178 n.Chr.) – die unter dem Namen „Almagest“ bekannte „Syntaxis mathematike“. Es gibt neben Ptolemaios nur wenig andere Namen, die so eng mit der Bibliothek von Alexandria verbunden sind. Ein Wunder der antiken Wissenschaft, dem ein moderner Wissenschaftler durch seinen Roman einen weiteren Gedenkstein setzt.

Tatsächlich ist der Franzose Jean-Pierre Luminet von Haus aus Astrophysiker. Und als solcher nüchtern genug, sich nicht an der Verstrickung zahlreicher Legenden zu beteiligen, die aus der Bibliothek ein Mysterium machen wollen. Ihre Kraft ziehen diese Geschichten aus dem gewalttätigen Ende des Wissensspeichers, in dem Hunderttausende Schriftrollen lagerten. Schon unter Gaius Julius Cäsar kam es zu einem Brand in der Bibliothek (48 v.Chr.). Im 4. nachchristlichen Jahrhundert gab es heftige Kämpfe zwischen Christen und Anhängern der alten Religionen. Um 391 sollen die Reste der Bibliothek diesen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen sein. Danach führte das einst glänzende Zentrum der Gelehrsamkeit nur noch ein Schattendasein, dem schließlich der Einfall der Araber ein endgültiges Ende machte.
Luminet ist nur insofern der „Legendenbildung“ schuldig, als er seinem Roman einen schlüssigen Hintergrund geben musste. Er entschied sich für das Jahr 642, in dem Amr ibn al-As, der Befehlshaber der Truppen des zweiten Kalifen Omar (634-644), die Stadt einnimmt, und damit dem Vordringen des Islams in den Maghreb Tor und Tür öffnet. Er soll die Eroberungen vorbereiten auf den neuen Glauben. Was auch hieß, alles zu vernichten, was mit dem Koran nicht vereinbar ist. Ganz oben auf der Liste: die Bibliothek von Alexandria.
Deren Hüter, der greise griechische Philosoph Philoponos, dessen Nichte und Mathematikerin Hypathia und der jüdische Arzt Rhazes versuchen nun, den gebildeten General von dieser Zerstörung abzubringen. Ihre Argumente verpacken sie in einen ausgedehnten Streifzug durch die Geschichte der Bibliothek und der Männer, die hier lebten und lehrten. Durch ihre Erzählungen breitet Luminet ein Kaleidoskop des antiken Weltwissens vor dem Leser aus. Gelehrte wie Euklid, Aristarchos von Samos (der die später vergessene Theorie von der um die Sonne rotierenden Erde aufstellte), Erathostenes (der erstmals den Erdumfang berechnete) oder eben jenen Ptolemaios (der nichts mit der Herrschersippe zu tun hatte) erweckt der Autor zu neuem Leben, in dem er die Verteidiger der Bibliothek nicht nur von ihren Taten, sondern auch aus ihrem Leben erzählen lässt – und damit zugleich Einblicke in den antiken Alltag gewährt.
Natürlich kann auch Luminet nur das Wissen anbieten, was auf die heutige Welt überkommen ist. Auch aus dem Leben der Beschriebenen muss der Autor einiges hinzudichten, um seinen Spannungsbogen zu halten. Luminets Problem ist das Problem der mittelalterlichen „Wissenschaftler“: Ihnen fehlte das, was der abendländischen Kultur beinahe vererbt wurde, und was – nicht nur in Alexandria – mit dem Untergang der Bibliothek für immer verloren ging. Pikanterweise waren es gerade die Araber, die mit der Kultur, die sie eroberten, keineswegs nur zerstörerisch umgingen. Ihren Gelehrten ist vieles von dem zu verdanken, was an antiker Literatur, Philosophie und Wissen übrigblieb.
Das wirkliche antike Weltwissen kann der Leser in dem Buch also nicht erwarten. Dies vor Augen unternimmt Luminet auch keine stupide Aufzählung der überlieferten Fakten. Vielmehr bietet er mit seinen Gesprächen – die an griechische Gastmähler inklusive Gelehrtenvorträge erinnern – einen unterhaltsamen Ausflug. Dem konzentrierten Blick auf die Bibliotheksgeschichte fällt indes eine Beschreibung der kriegerischen Realität zum Opfer. In idealisierten Charakterzügen schwelgen die Hauptpersonen in einer Art Kammerstück in der Wissenschaftswelt. Das wahre Leben wird ausgeblendet, sobald es den Leser vom eigentlichen Thema des Buches ablenken könnte.
So gesehen nimmt Luminet das dramatische Element aus dem Buch heraus. Doch der Leser weiß, dass es die Bibliothek nicht mehr gibt. Und Luminet wollte nicht zeigen, wie sie unterging, sondern was sie in ihrem Inneren barg. Und dies gelingt ihm mit einem verdammt gut recherchierten Reigen von Fakten, Anekdoten und bunten Geschichten. Sie alle haben so stattgefunden oder hätten – dort, wo die Überlieferung schweigt – so stattfinden können. Dies macht das Buch zu einem Lesevergnügen. Wer auf reine Fakten nicht verzichten mag, für den birgt der Anhang aufschlussreiche Zusätze.
Das Buch endet mit einer Verbeugung vor dem polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473-1543), der buchstäblich den Stab der alexandrinischen Gelehrten erbt. Er brachte Hunderte Jahre nach Aristarchos das heliozentrische Weltbild wieder ins Spiel – und das bis dahin geltende ptolemaische zum Wanken. Im Nachlass des Astronomen fand sich übrigens ein Exemplar des ersten Druckes von Ptolemaios’ „Almagest“. Die Seiten hatte Kopernikus nicht mehr aufgeschnitten, so als wüsste er, dass sein System von umwälzender Kraft war.

Jean-Pierre Luminet: Alexandria 642 – Roman des antiken Weltwissens, C.H.Beck, 2003, 287 Seiten, 19,90 Euro

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