Quellensuche Spukgeschichten dienen der Forschung

Berichte von rumorenden Gräbern, Betten mit heilender Kraft oder zahmen Hirsche vor dem Pflug sind als phantastische Erzählungen vielleicht genussvoll zu lesen, aber taugen sie auch als Quellen historischer Forschung?

Vom Nutzen von Legenden

Ein Buch mit dem Titel „Mirakelberichte des frühen und hohen Mittelalters“, das vor kurzem bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt in der renommierten Reihe „Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe“ erschienen ist, tritt den Beweis dafür an. Der Band präsentiert die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe aus Studenten, Doktoranden und Lehrenden, die sich an der Universität Erlangen-Nürnberg im Anschluss an ein Hauptseminar am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte von Prof. Dr. Klaus Herbers gebildet hatte.

Seit dem Jahr 2000 hatte sich die Autorengruppe intensiv mit den Aussagemöglichkeiten und Darstellungsformen von mittelalterlichen, lateinisch verfassten Berichten von Wundern, sogenannten Mirakelberichten, befasst. Aus der gemeinsamen Arbeit entstand das ausführliche Vorwort des Bandes, das einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand gibt. Es folgen zwölf Quellendosiers aus der Zeit vom 7. bis ins 12. Jahrhundert in lateinischer Sprache und übersetzt ins moderne Neuhochdeutsch sowie mit Kommentaren versehen.

Die Texte eröffnen die Möglichkeit, wissenschaftliche Ergebnisse an einem ausgewählten, europaweit gestreuten Material zu erarbeiten oder an bekannte Ergebnisse anzuknüpfen und diese zu überprüfen. Die im Vorwort aufgeworfenen Fragen lassen sich auch in der Lehre selbst beantworten, so dass die Symbiose aus Forschung und Lehre, die – im Rückgriff auf das sprichwörtliche Humboldtsche Bildungsideal – in dem Werk verkörpert ist, in einen Kreislauf mündet.

„Unbrauchbares Zeug“

Mirakelberichte sind erst seit relativ kurzer Zeit Gegenstand der modernen mediävistischen Forschung. Im 19. Jahrhundert, als vor allem die deutsche Geschichtswissenschaft eher politisch verwertbares Material als Begründungshilfe im Prozess der Nationalstaatbildung suchte, wurden diese Texte achtlos, manchmal mit Verachtung, übergangen. Man beäugte diese Berichte und ihre Inhalte misstrauisch und urteilte, es handle sich weitgehend um „historisch unbrauchbares Zeug“.

Erst neuere Forschungsansätze und Fragestellungen nach religiösen Prozessen, vorherrschenden Vorstellungswelten, sozialen Gruppen und ihren Lebensumständen in früheren Epochen eröffnen ganz neue Blicke auf diese Berichte. Am Beispiel der unerklärlichen und unvorhersehbaren Genesung von „unheilbar“ Erkrankten lässt sich ein wichtiger Unterschied zwischen mittelalterlichen und modernen Wahrnehmungen gut veranschaulichen. Wird ein Mensch wider Erwarten gesund, so spricht man auch heute noch zuweilen von einem Wunder.

Im Mittelalter blieb dieser Begriff aber nicht einfach abstrakt oder wurde dem Zufall zugeschrieben. Wunder wurden als Manifestation des göttlichen Willens und göttlicher Präsenz in der Welt wahrgenommen, vermittelt durch starke Fürsprecher, die Heiligen.

Dieser Weltsicht und diesem Glauben, aber auch der Konkurrenz verschiedener Zentren um den wirksamsten Heiligen, verdanken wir die Berichte über Wunder, die im vorliegenden Band übersetzt wurden. Häufig sind Wundererzählungen wichtiger Bestandteil von Biographien der Heiligen, ihrer Lebens- und Wirkungsgeschichte. Diese Lebensbeschreibungen (Viten) sind schon wegen ihrer Masse ein wichtiges, jedoch zu wenig beachtetes Quellengut für die Geschichtswissenschaft. In dieses ungeheuer umfangreiche Material bietet das mit wundersamen Geschehnissen und moderner Deutung gefüllte Buch einen ersten Einblick.

„Wunder gibt es immer wieder“, lautet ein bekannter Schlagertext, der ebenso wie die Verwendung des Begriffs in der Alltagssprache zeigt, dass das Unerklärliche im Lauf der Jahrhunderte nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat. Sich mit Wundern zu beschäftigen, bedeutet deshalb möglicherweise, eine anthropologische Konstante aufzugreifen: wahrscheinlich werden die Menschen in ferner Zukunft trotz des wachsenden Angebots an rationalen Erklärungen immer noch das Unbegreifliche faszinierend finden.

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