Nimmersélich Jenseits brachialer Mittelalterpower

Keineswegs erstaunt reagiert Martin Uhlig auf die Frage. Eher belustigt senkt er seinen Blick auf die vor ihm dampfende Teetasse. Eine seltene Novembersonne glüht in das geräumige Wohnzimmer in dem Leipziger Altbau hinein, in dem der Besucher mehr Instrumente erwartet hätte. Schließlich sind Uhlig und sein WG-Genosse Robert Schuchardt Musiker mit Herzblut. Einzig die Replik eines mittelalterlichen Trumscheids – für den Laien eine Mischung aus einem Balken und einem Kontrabass – wirft den Sonnenschein dezent zurück. „Es ist eine verbreitete Legende, dass es wenig Notenmaterial aus dem Mittelalter gibt“, sagt Uhlig schließlich, „es existiert tonnenweise – man muss es aber zu finden wissen.“ Die Lust an der Recherche ist eines der Markenzeichen der Leipziger Gruppe Nimmersélich. „Ganz nah ans Original“ ihr Credo.

Manchmal scheint es, als würde ein breiter Graben die mittelalterliche Musikszene trennen. Auf der einen Seite Gruppen, die sich mit möglichst geräuschvollen, markigen Auftritten (zuweilen in Metalloptik gehüllt) auf überfüllten Märkten Gehör verschaffen, auf der anderen die leiseren Töne der klassisch arrangierten Stücke, vorzugsweise vor kleinerem Publikum dargebracht. Als hätte der ewige Streit um Anerkennung zwischen E- und U-Musik auch die Mittelalterszene erreicht. Ein Streit, dem sich auch Nimmersélich nicht ganz zu entziehen vermag. Unterscheiden die sechs Musiker doch selbst zwischen Markt- und Konzertmusik bei der Aufbereitung ihres Repertoires.

„Ich sehe mich als Gegner der extremen Spaßgesellschaft.“ Sinnierend wühlt Martin Uhlig in seinem rotblonden Bart. „Ich habe den Eindruck, dass tiefgründigere Botschaften leider oft verpönt sind.“ Wirklich authentische Musik sei für das Publikum, gerade auf den turbulenten Märkten, möglicherweise eher langweilig, fürchtet auch Robert Schuchardt. „Und ein Toningenieur auf einen Livekonzert, wo Nimmersélich und Tanzwut nacheinander auftreten, hätte mit Sicherheit große Probleme“, verdeutlicht Uhlig mit leisem Lächeln.

Nicht nur Trommeln und lärmende Sackpfeifen bestimmen das Instrumentarium der Gruppe. Vor allem hoch- und spätmittelalterliche Quellen nutzen die jungen Musiker. Quellen wie die „Cantigas de Santa Maria“, eine spanische Liedsammlung des 13./14. Jahrhunderts, oder das ebenfalls spanische „Llibre Vermell de Montserrat“, geschrieben im 13. Jahrhundert von Mönchen des berühmten katalanischen Klosters. Es gibt etliche geeignete Sammlungen, auf die ernsthafte Gruppen gern zurückgreifen, meint Uhlig. „Ernsthaft“, da ist das Wort, mit dem die beiden ihren Anspruch zu umschreiben versuchen.

Keines der Nimmersélich-Mitglieder ist Berufsmusiker, Uhlig und Schuchardt sind beide in der Medienbranche ausgebildet. Und keiner muss von der Musik leben, auch wenn Nimmersélich seit seiner Gründung 1999 auf zahlreiche Liveauftritte zurückblicken kann, und die erste CD gerade in Arbeit ist. „Weil das so ist, können wir uns auf unsere Wunschzeit konzentrieren“, sagt Uhlig. Aus Quellen des 12. bis 15. Jahrhunderts ziehen sie die meisten ihrer Stücke.

Das Notenmaterial, aus Bibliotheksbeständen und bibliophilen Internetseiten herausgefiltert, wird quasi buchstabengetreu arrangiert. Allerdings, es bleiben immer nur Annäherungen. „Es existieren ja keine Tonaufnahmen und leider auch keine Hinweise darauf, wie die Stücke zu spielen sind“, schränkt Uhlig ein. In Rhythmus und Geschwindigkeit müssen sich die Musiker einfühlen.

Manchmal hilft Sekundärliteratur, etwa ein mittelalterlicher Roman, in dem der Auftritt eines Barden beschrieben wird, der mit einer Fidel zum Tanz aufspielt. Tanzen also, nicht nur singen – daraus lässt sich bereits ein gewisser Ansatz für den Rhythmus erkennen. Nur, wie hat die Fidel geklungen? Auch das Stimmen der Instrumente muss nach dem Bauchgefühl geschehen. Und Nimmersélich verwendet von der Fidel über Drehleiher, Trumscheid bis zur Laute eine ganze Reihe Instrumente. Sie alle wurden nach mittelalterlichen Abbildungen gefertigt. Die selbst genähte Gewandung – auch sie originalgetreu hergestellt – rundet den Anblick der Gruppe ab. Ein Auftritt wie aus einem Guss ist das Ziel von Nimmersélich. Daran feilen die Autodidakten immer wieder.

„Künstler haben eine gewisse Verantwortung, wenn sie öffentlich auftreten“, findet Uhlig. „Sie sollten sich schon Gedanken machen, was sie wie rüberbringen“, fügt sein Freund hinzu.

Eine gewisse Strenge umrahmt Proben, Arrangements und Auftritte von Gruppen wie Nimmersélich. Nur wenige Gruppen, eine „Handvoll“, betreiben ihre Musikarbeit ähnlich „ernsthaft“. Ein Bereich, der sich von der „Marktmusik“ abhebt, meinen die beiden Musiker. „Aber eine wirkliche Grenzen können wir auch nicht ziehen“, sagt Schuchardt, „nur weil eine Band U-Musik macht, muss das nicht automatisch heißen, dass sie sich keine Gedanken macht.“ Das wäre, als würde jemand eine für jeden verständliche Grenze zwischen Rock und Hardrock ziehen wollen.

Nimmersélich tritt selbst hin und wieder auf Märkten auf. „Wir grenzen uns da keineswegs aus“, sagen sie. Das Geheimnis, sagt Robert Schuchardt, sei vielleicht sich tatsächlich einmal die Zeit zum Zuhören zu nehmen. Dann erschließe sich auch einem Laien die Vielfalt eines gut gespielten und arrangierten Programms. Und ewig gleiche Coverstücke würden direkt aufstoßen. „Da hört zumindest bei mir jedes Verständnis auf“, sagt Martin Uhlig.

Den Namen hat sich Nimmersélich ebenfalls nach einem Original verpasst. Genauer, nach einem Blick in ein Tiroler Rechnungsbuch aus dem 14. Jahrhundert. Darin wurde exakt verzeichnet, was dem fahrenden Spielmann, der als Namen Nimmersélich angab, an Honorar bezahlt wurde. Ein Künstlername, glauben die beiden. Da Fahrende, wie die reisenden Barden, außerhalb der Gesellschaft standen, immer am Rande der Ächtung, waren sie angeblich auch weit vom Seelenheil entfernt. Viele ertrugen diesen Umstand mit einer gehörigen Portion Selbstironie. „Nimmersélich“, also so viel wie „niemals selig werden“, ist ein Ausdruck dafür.

Uhlig und Schuchardt tragen ihren künstlerischen Anspruch auch in andere Gruppierungen, mit denen sie auftreten. Mit anderem Repertoire und Stücken, die aus dem Orient in das Abendland fanden. Und beide haben gemeinsam „Spielleut.de“, eine Internetplattform für mittelalterliche Musiker, kreiert. Anfangs, um Eigenwerbung zu betreiben. Doch sehr schnell wurde eine Informationsbörse daraus – mit Einblicken in Notenhandschriften und Anleitungen zum Instrumentenbau. „Wir möchten damit auch Wege zeigen, was mit historischen Quellen möglich ist“, sagen sie. Gute Stimmung und hoher Anspruch – das schließe sich keineswegs aus.

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