Rete Amicorum Interpreten der Vergangenheit

Angharad Beyer (links) mit Besuchern im Archeon. © Rete Amicorum

Kulturelles Erbe – für Laien manchmal schwer verdauliche Kost aus Museumsvitrinen. Besser geht’s mit gutem Konzept. Am besten mit Erlebnischarakter. Die Living-History-Agentur Rete Amicorum macht so etwas.

Geschichte inszenieren

Living History – im Englischen klingt das richtig griffig. Die deutsche Szene tut sich mit einer Übersetzung recht schwer. Das oft gebrauchte Wortpaar „erlebbare Geschichte“ ist ein eher schwammiges Vehikel. Doch worum es eigentlich geht, fasste der Ur- und Frühgeschichtler Nils Kagel auf der Anfang Mai dieses Jahres stattgefundenen Tagung „Living History in Freilichtmuseen“ im Museum Am Kiekeberg bei Hamburg etwas sperrig, aber treffend zusammen: Es gehe im Grunde um ein „Konzept der erlebnisorientierten Vermittlung von historischen Vorgängen mit Hilfe von Darstellern“.

Seit Jahren machen sich immer mehr Museumspädagogen, Wissenschaftler und vor allem Darsteller Gedanken darüber, wie sie das Vergangene sowohl optisch anspruchsvoll als auch historisch korrekt in Szene setzen. Manchmal verhelfen gewissermaßen auch die Toten längst vergangener Kulturen zu äußerst lebendigen Ansichten.

Die Toten von Asseln

Merowingerzeit: Das sechste Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. 40 bis 50 Jahre alt wurde der Mann, der auf einem Flecken zu Grabe getragen wird, der heute Dortmund-Asseln heißt. Ein zweischneidiges Langschwert, die Spatha, wird ihm mitgegeben – eine wahrhaft herrschaftliche Gabe. Auch eine etwa gleichaltrige Frau finden die Archäologen rund 1400 Jahre später zusammen mit reichen Grabbeigaben. Die Dortmunder Archäologen nennen die beiden Toten die „Herrschaften von Asseln“. Fein gearbeiteter Schmuck und viele andere Funde in den Gräbern ringsum lassen eine rege Wanderzeit der beiden „Herrschaften“ vermuten – womöglich sogar in Verbindung mit Langobardenzügen nach Italien. Der Friedhof – so die These der Wissenschaftler – ist die Grablege einer ganzen Sippe.

In mehreren Kampagnen dokumentierten die Forscher die Funde. 2007 wurde all das im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte ausgestellt. Die Originalfunde waren ein Teil des Konzepts. Die Ausstattung des reichen Ehepaares sollte zudem als Rekonstruktion in ganzer Pracht neu erstrahlen. So exakt wie möglich – ein gewaltiges Stück Recherche- und Handwerksarbeit für die Living-History-Agentur Rete Amicorum aus Aachen. „Allein für die Frau mussten fast 200 Perlen dem exakten Fundmuster zugeordnet werden“, sagt Angharad Beyer, die gemeinsam mit Agenturpartner Andreas Sturm den Job übernahm.

Grabrekonstruktionen gehören keineswegs zu den zentralen Aufgaben der beiden. Aber das Beispiel zeigt, wie detailversessen sie vorgehen. Und würde man Rete Amicorum heute bitten, sämtliche Kleider vorzuführen – die historische Modenschau würde gut 200 Stücke sowie Epochen von der Steinzeit bis ins 16. Jahrhundert umfassen.

Recherche ist die Basis

Das Problem in Asseln: Es gab kaum Textilfunde. Aber die Artefakte und Forschungen der Archäologen lieferten wichtige Hinweise auf den gesellschaftlichen Stand. Und aus langer Erfahrung heraus – seit 2000 rekonstruieren Beyer und Sturm historische Kleidung – wissen sie, wie Lücken zu schließen sind. Frühmittelalterliche Kleidung hat sich über lange Zeit kaum verändert. Klar ist auch, dass fränkische Stämme, Alamannen oder Langobarden häufig Leinen verwendeten. Funde aus anderen Gräbern und zeitgenössische Beschreibungen lieferten weitere Puzzleteile.

Hinzu kam das Wissen um so wichtige Details wie der Metallarmut jener Zeit. Ein Männergürtel war entsprechend sparsam mit Beschlägen versehen. Die Ergebnisse schließlich mussten zu den Funden aus Asseln passen. Im Grunde geht es um kreative Logik: Wenn unsere Nachfahren einen Smoking des 21. Jahrhunderts rekonstruieren wollten, wären Korksandalen wohl kaum das passende Schuhwerk.

Der große Rest war die richtige Wahl von Stoffen und Zubehör, Färben nach überlieferten Methoden und Rezepten, und immer wieder der Vergleich mit den vorhandenen Originalstücken. Für die Metallrepliken holte Rete Amicorum einen Schmied mit ins Boot. Das sei eben eine Sache, die er nicht so gut könne, meint Sturm. „Es gibt halt auch Grenzen.“

Vermittlung durch Interpretation

Gelernte Historiker sind Angharad Beyer und Andreas Sturm nicht. Sie studierte Kulturwissenschaften, er Textil- und Bekleidungstechnik. „Aber ich habe schon immer wissen wollen, was die Menschen vergangener Zeiten gegessen oder getragen haben“, erzählt Beyer. Und für Sturm begann die Laufbahn in der historischen Szene auf eine fast klassisch zu nennende Weise: Rollenspiele wie DSA, Liverollenspiele (Larp) und „Mittelaltermärkte“. „Aber das war alles nicht das Wahre“, findet er. Zumindest nicht, wenn es um möglichst genaue Geschichtsvermittlung geht. Und genau das steuerten beide recht schnell an. „Living History“, sagt Beyer, „das ist mein Ding.“

Ob hochmittelalterliche Kleidung, Karolingerzeit, Antike oder Reformation – „wir probieren eben gern neue Kleider“, sagt Sturm. Kleider, nicht Kostüme, auf diesen Unterschied legen sie großen Wert. Oder wie Beyer beschreibt: „Kleider sind Ausdruck der damaligen Sitten und Weltsicht.“ Die beiden wollen nicht so tun, als wären sie Menschen aus der Vergangenheit – sie wollen so aussehen. Und sie helfen Museumsbesuchern auch durch erzählerische Elemente, sich in jene Zeiten hineinzuversetzen. Das Englische hat auch dafür einen passenden Begriff parat: Heritage Interpretation, was Rete Amicorum mit „historische Interpretationen“ übersetzt. Das ist der eigentliche Schwerpunkt der Firma, die beide 2004 gegründet haben.

Wohnen auf gestampftem Lehm

Heritage Interpretation also. In England und den USA gibt es eine große Szene jener Menschen, die zum Beispiel in die Rolle von historischen oder fiktiven Figuren einer früheren Epoche schlüpfen. Dem Publikum begegnet dann ein „George Washington“ oder ein „Iulius Caesar“, der in der Ich-Form von seinen Taten berichtet und handelt; die so genannte First-Person-Interpretation. Das kommt auch bei Rete Amicorum vor. „Aber es ist selten sinnvoll, im Museum durchgehend eine feste Rolle zu spielen“, sagt Beyer. Für kurze Szenen mag so etwas taugen, doch die Kommunikation mit dem Publikum bleibt einseitig – für die Beantwortung von Fragen müssten „George“ und „Iulius“ schließlich buchstäblich aus ihren Rollen fallen.

Wesentlich häufiger setzt Rete Amicorum die Third-Person-Interpretation ein. Will heißen: Die Akteure demonstrieren zwar Vorgänge, geben aber nicht vor, sich gerade in der Vergangenheit zu bewegen. Sie sind dann gewissermaßen moderne Beobachter in historischem Outfit. Das machen Beyer und Sturm zuweilen tagelang. Im niederländischen Freilichtmuseum Archeon zum Beispiel. Die Anlage bietet unter anderem Nachbauten mittelalterlicher Häuser. Dort haben sie schon mehrfach bis zu zehn Tage am Stück verbracht – und in einem der Gebäude gewohnt.

Mit passender Kleidung und Ausrüstung durchlaufen sie typische Alltagssituationen zwischen Lehmfußboden und Strohdach, mit zeitgenössischen Werkzeugen zum Feuermachen bis hin zum Kochen mit historischem Geschirr. Als Angharad und Andreas verleben sie die Tage und treten so auch dem Publikum gegenüber auf; aber sie tun das durchgehend in ihren rekonstruierten, mittelalterlichen Kleidern. Natürlich gibt es auch Grenzen, etwa hygienischer Art. Aber die wesentlichen Situationen basieren auf historischen Erkenntnissen. „Wir erleben diese Atmosphäre richtig“, schwärmt Beyer. Auch so lassen sich neue Erfahrungen sammeln und zugleich an Museumsbesucher vermitteln.

Von Schwänken und Wikingerüberfällen

Es sind die Geschichten hinter den Artefakten und den daraus entstehenden Rekonstruktionen, die Angharad Beyer und Andreas Sturm vor allem faszinieren. Living History ist ihr Weg, um den Dingen Leben einzuhauchen. Und dafür ist eben manchmal auch die First-Person-Interpretation das beste Mittel zum Zweck. Immerhin haben beide Theatererfahrung gesammelt. Rete Amicorum hat denn auch szenische Programme entwickelt.

Dazu gehört auch die Adaption eines Schwanks aus dem 13. Jahrhundert – der „Kampf um die Unterhose“. Das Stück steckt voller Humor, von dem sich auch das Publikum anstecken lässt. Ist erst einmal ein emotionales Band zu den Menschen geknüpft, lassen sich auch historische Fakten in eine solche Choreografie einweben. In besagtem Schwank geht es im Grunde um mittelalterliche Geschlechterrollen. Ein anderes Stück entführt ins 9. Jahrhundert; in die Zeit der Raubzüge der Nordmänner. Passend zu einer Bonner Wikingerausstellung schrieben Beyer und Sturm eine Szenerie rund um den Überfall auf die Abtei von Prüm. Und das Publikum erlebte die Angst einer Bäuerin vor den nordischen Kriegern hautnah mit.

Welche Technik auch immer zur Anwendung kommt, immer gilt für Rete Amicorum die gleiche Faustregel. „Es geht um Vertrauen und Glaubwürdigkeit“, sagt Beyer. Die Kleidung sei das erste, was der Besucher zu sehen bekommt. Und die müsse bis ins Detail stimmen. Das zu erreichen, kostet neben Geld und Energie vor allem eines – Zeit. Die beiden Akteure entschieden sich für den konsequenten Weg und machten ihr Hobby kurzerhand zum Beruf. Sie sehen ihre Profession in der Mischung aus Wissenschaft und Kunst. Ein Anliegen, das Beyer und Sturm auch als Referenten bei der Tagung Am Kiekeberg vertraten. „Living History“, sagten sie dort, „soll uns helfen, den Wert unseres kulturellen Erbes besser zu verstehen.“

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